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Il Silenzio
Es war einer der wenigen warmen Frühlingsabende in einem Lockdown, der überhaupt nicht mehr enden wollte. Wenn die Menschen von ihrer Arbeit zurückgekehrt und die Motoren ihrer Autos verstummt waren, wurde es still in Gerdas Welt. Eine Freundin hatte ihr letztens am Telefon erzählt, dass sie sich inzwischen vor dieser Stunde fürchtete. Die Stille mache ihr erst bewusst, wie einsam sie in diesem verflixten letzten Jahr geworden war. Im Gegensatz zu ihrer Freundin liebte Gerda die Stille. Sie liebte es, dem Gesang eines Amselmännchens oder den Diskussionen der Frösche im Feuchtbiotop einer nahe gelegenen Schule zuzuhören. Sie stand am offenen Fenster ihrer zwei-Zimmer-Wohnung über der Hauptgeschäftsstraße ihres Städtchens und lauschte den Geräuschen, die sie sonst nur zu hören bekam, wenn sie in den Schwarzwald oder nach Bayern in Urlaub fuhr.
Obwohl es empfindlich kühl wurde, als die Sonne hinter den Dächern der gegenüberliegenden Häuser versank, blieb sie am offenen Fenster stehen, und genoss die Illusion eines Urlaubs in den Bergen.
Plötzlich ertönte aus der Dachwohnung über ihr ein Geräusch, das Gerda erschrocken zusammen fahren ließ. Offenbar hatte sich Herr Amsel auch erschreckt, jedenfalls verstummte er plötzlich. Tina hörte nur noch das Schwirren seine Flügel, dann verschwand die kleine, schattenschwarze Gestalt in das frühlingsblasse Laub einer Platane.
Da war das Geräusch schon wieder. Es klang, als würde sich ein Elefant lange und ausgiebig schnäuzen. Gerda schnaubte empört. Der junge Mann, der vorgestern erst eingezogen war, hatte wahrhaftig keine sehr charmante Art, sich seiner neuen Hausgemeinschaft vorzustellen. Was trieb er da oben eigentlich? Wie um alles in der Welt erzeugte er Geräusche, die Gerda an einen See-Elefanten mit Schluckauf denken ließen?
Sie spielt bereits mit dem Gedanken, ihren Besen aus der Kammer zu holen und damit energisch gegen die Decke zu klopfen, als aus dem Schluckauf eine Tonfolge wurde. Kurze, klangvolle Töne stiegen wie Bläschen in einem Sektglas aus der Dämmerung auf und tropften über die Dächer der stillen Stadt. Aus einem langen, tiefen Ton perlte eine rasche Folge kurzer Töne hervor, die sich höher und immer höher in den grau-violetten Abendhimmel hinaufschwangen und gleich darauf wieder zurückkehrten zu dem Ton, der sie geboren hatte.
Dann ertönte eine Tonfolge, die Gerda jederzeit und überall wiedererkannt hätte. Sie spürte, dass ihre altersstarren Züge ganz weich wurden, als sie in Gedanken an den Largo Maggiore zurück reisten, wo sie diese Melodie zum ersten Mal gehört hatte. Es war ihre Hochzeitsreise gewesen, und sie hatten auf der Seeterrasse eines sündhaft teuren Restaurants zu Abend gegessen. Plötzlich war ein Mann mit einer Trompete auf die Terrasse gekommen. Ernst hatte ihn an ihren Tisch gewinkt, mit ihm geflüstert und ihm einen zwanzig-Mark-Schein in die Hand gedrückt. Er hatte gelächelt, genickt und während Ernst ihre Hand nahm und sie voller Liebe angeschaut hatte, hatte der Trompeter vom Largo Maggiore diese Melodie für sie gespielt.
"Es heißt Il Silenzio", hatte Ernst geflüstert, als die letzten Töne verklungen waren. "Und es ist jetzt für immer unser Lied."
"Hör mal, Ernst", flüsterte Gerda, als die letzten Töne aus der Dachwohnung zu ihr herunter klangen. "Er spielt unser Lied."
RE: SGZ 23 - Il Silenzio
in Die Geschichten der Woche 10.06.2021 21:27von Doro • Federlibelle | 2.416 Beiträge | 9470 Punkte
Hallo @Beate W. ,
was für eine schöne Geschichte.
Vor allem hast du wunderschöne Bilder in deinem Text.
Das hier gefällt mir besonders gut:
Zitat von Beate W. im Beitrag #1
das frühlingsblasse Laub
Die Beschreibung der Töne bzw des Trompetenspiels ist ebenfalls sehr gelungen.
Ich habe mir das Lied gerade angehört. Habe ich schon ewig nicht mehr.
Sehr gern gelesen.
LG
Doro
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)
RE: SGZ 23 - Il Silenzio
in Die Geschichten der Woche 11.06.2021 16:04von Gini • Federlibelle | 1.809 Beiträge | 3714 Punkte
@Beate W.
Eine wirklich schöne und rührende Geschichte. Aber auch ein wenig lustig bei der Beschreibung,
wie der junge Mann die Trompete spielt. Du hast sehr schöne Vergleiche in der Geschichte verwendet.
Ich habe großes Mitleid mit der Gerda. Wie traurig, dass ihr Mann schon vor ihr gegangen war.
Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.
Wilhelm Busch (1832-1908)
Vielen Dank für die ermutigenden Rückmeldungen, liebe @Doro, liebe @Gini
Es freut mich, dass die Bilder auf euch nicht kitschig oder überzogen gewirkt haben. Der Grat ist beliebig schmal, und ich lande wahrhaftig nicht immer auf der richtigen Seite.
Das viele Frauen ihren Lebensabend als Witwen verbringen, ist leider eine traurige Wahrheit, da bei den meisten Paaren (dieser Generation) die Männer etwas älter, und ihre Lebenserwartung etwas kürzer sind. Ich denke, Gerda hat sich gut mit dem Alleinsein arrangiert.
Wenn ich die Geschichte noch einmal überarbeite, werde ich allerdings dafür sorgen, dass Ernst früher "auftritt" und "präsenter" wird. Es passiert mir bei SGZ-Geschichten oft (und es ist auch diesmal wieder passiert), dass sie mich mit ihrem Schluss überraschen, und dann muss ich den Schluss bei der Überarbeitung halt im Nachgang besser vorbereiten.
RE: SGZ 23 - Il Silenzio
in Die Geschichten der Woche 12.06.2021 10:13von -jek • Federlibelle | 734 Beiträge | 2198 Punkte
Mir gefällt die überraschende Wende mit der Erinnerung an die Hochzeitsreise. Ich würde daran nicht ändern. Aber wenn du an dem Text noch feilen willst, dann guckst du dir vielleicht auch den Absatz mit dem wundervollen Bild mit den Bläschen im Sektglas an. Fünfmal "Ton" ist ein bisschen viel, auch wenn ich nicht wüsste, wie das Wort zu ersetzen wäre.
Übrigens finde ich gut, dass du zu den Pionierinnen gehörst, die die existentielle Erfahrung der Corona-Seuche literarisch verarbeiten.
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Wenn du Schreibregeln beherrscht, ist das gut. Wenn sie dich beherrschen, ist das schlecht.
RE: SGZ 23 - Il Silenzio
in Die Geschichten der Woche 12.06.2021 10:57von Bree • Federlibelle | 4.476 Beiträge | 18164 Punkte
Liebe @Beate W.
mir gefällt der Text genauso, wie er ist. Abgesehen davon, dass aus Gerda einmal eine Tina geworden ist, habe ich absolut nichts anzumerken. Du zeichnest mit deinen Worten sehr schöne Bilder, die Stille ist greifbar, und deine Vergleiche hinsichtlich des Trompetenspiels gefielen mir so gut, dass ich den ersten Satz markiert habe, um dir sagen zu können, wie toll ich ihn finde.
Zitat von Beate W. im Beitrag #1
Kurze, klangvolle Töne stiegen wie Bläschen in einem Sektglas aus der Dämmerung auf und tropften über die Dächer der stillen Stadt.
Obwohl mir sonst Wiederholungen leicht auffallen, bin ich über die vielen Töne, die @-jek angemerkt hat, nicht gestolpert. Aber vielleicht kann man den einen oder anderen gegen 'Melodie' austauschen.
Sehr gern gelesen, wirklich!
LG
Bree
Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)
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Alles über meine Bücher & mich findet ihr auf meiner Website: www.brittabendixen.de
Einen eigenen Youtube-Kanal habe ich auch. Dort lese ich einige meine Geschichten.
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Vielen Dank für den Tipp mit den vielen Tönen, lieber @-jek . Ich bin sicher, den einen oder anderen kann ich noch heraus schreiben. Dass du den zugelaufenen Grashüpfer auf dieser Wiese eine Pionierin nennst, gefällt mir übrigens so gut, dass es mich fast verlegen macht ...
Liebe @Bree
Auch dir vielen Dank für die motivierende Rückmeldung und die Tina-Erbse. Ursprünglich sollte die einsame Freundin schöner Töne Tina heißen und jung genug sein, um sich in den Trompeter zu verlieben ohne ihn je gesehen zu haben. Im Lauf der Geschichte wurde sie älter und bekam einen passenderen Namen. Offenbar ist mir noch eine Tina entwischt.
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