#1

Wiesenwettbewerb Nr. 3 - Story Mix - Nur hier sitzen

in Archiv 15.05.2021 20:56
von Anka • Federlibelle | 756 Beiträge | 3343 Punkte

Nach Jahren des Wartens hatte Robinson es aufgegeben. Es würde kein Schiff kommen, um ihn zu retten. Für den Rest der Welt schien seine Insel unauffindbar zu sein. Mit seinen Nachbarn, einem wilden Kannibalenstamm, hatte er sich halbwegs arrangiert. Sie ließen ihn in Ruhe, wenn er wöchentlich etwas Getreide oder Gemüse vorbeibrachte. Freitag lebte inzwischen als junger Stammesführer unter den Wilden und versuchte, sie etwas zu kultivieren. Allerdings mochte er kein Fleisch. Robinson vermisste seinen Freund und freute sich immer sehr auf dessen wöchentliche Besuche.


Die anderen Tage nutzte er dazu, seine Plantagen zu kontrollieren, die im subtropischen Klima prächtig gediehen. Seine Ziegen fanden gutes Futter und gaben viel Milch, so dass es ihm an Nichts fehlte. Eines Abends saß er satt und selig am Feuer und schaute dem Sonnenuntergang zu. Er rauchte getrocknetes Gras, das er in ein Stück Rinde gerollt und angezündet hatte und ließ den Blick übers Meer schweifen. Die Wellen kräuselten sich im goldenen Licht, Palmen verneigten sich am Stand und Papageien flogen kreischend umher. Robinson fühlte sich wohl. Er hatte sich auf dieser kleinen Insel eine neue Heimat geschaffen und genoss die Zeit, die er im Überfluss besaß. Niemand trieb ihn, er konnte den ganzen Tag lang tun und lassen, was er wollte. So war es gut und so sollte es bleiben.

Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er die glimmende Rindenrolle, führte sie zum Mund und zog genussvoll daran. Das Lagerfeuer knisterte und Robinson bemerkte plötzlich, wie der Rauch langsam die Formen einer Gestalt annahm. Erst dachte er, es sei eine Sinnestäuschung, doch dann wurden die Umrisse deutlicher. Ein Herr mit Hut, ganz in Rot gekleidet tauchte auf. In der Hand hielt er eine rote Aktentasche und auch sein Gesicht schimmerte rötlich. Er trat zu Robinson, lüftete kurz den Hut, wischte sich mit einem Tuch über die Glatze und lächelte. „Guten Abend. Darf ich mich setzen?“
Erstaunt richtete Robinson sich auf und prüfte mit kritischem Blick seine Rindenrolle. Welches Gras rauchte er da eigentlich? Verursachte es Halluzinationen? Doch der rote Herr schien jetzt ganz real zu sein. Er nahm neben ihm am Feuer Platz und begann in seiner Aktentasche zu wühlen. „Du musst entschuldigen“, sagte er. „Ich bin noch nicht lange im Geschäft. Habe früher bei der Zeitsparkasse gearbeitet und Stundenblumen gesammelt. Das lief super, bis diese Momo kam.“ Er zog etwas aus der Tasche, wickelte es aus und steckte es sich in den Mund, so dass nur noch der Stiel herausschaute. „Damals war ich noch grau und habe Zigarre geraucht“, setzte er seine Erklärung etwas unverständlicher fort und der Stiel tanzte dabei in seinem Mund. „So wie du. Jetzt bekomme ich nur noch klebrige Lolli-Lutscher. Doch ich muss dankbar sein. Meister Hora hat mir die Wahl gelassen. Auflösen oder Umschulen. Ich habe mich für die Umschulung entschieden. Bin jetzt beim Zeitmanagement!“


„Stopp, mal, stopp“, rief Robinson und warf den Stummel seiner Rindenrolle ins Feuer. „Du erscheinst hier wie eine Fata Morgana und textest mich zu. Von deinem Gerede dröhnt mir der Schädel. Was soll das? Wer bist du?“
Der Unbekannte nahm den Lolli aus dem Mund und straffte die Schultern. „Ich bin Agent LOV 13 und komme im Auftrag von Meister Hora. Er ist der Hüter der Zeit. Du hast zu viel davon, deshalb soll ich dir vorschlagen, sie sinnvoller zu nutzen.“
„Das ich nicht lache. Wie denn?“
„Hast du schon mal nachgedacht, worin der Sinn des Lebens besteht?“
„Der Sinn des Lebens besteht darin, es zu genießen.“
„Nein. Der Sinn des Lebens besteht darin zu lieben und sich fortzupflanzen. Sonst hinterlässt du nichts, wenn du stirbst.“
Erzürnt sprang Robinson auf. „Willst du mich verschaukeln? Ich bin auf einer einsamen Insel! Hier gibt es niemanden, den ich lieben könnte, außer mich selbst.“
Der rote Herr blieb ruhig und leckte mehrmals an seinem Lolli bevor er antwortete: „Es gibt in der Nähe einen Stamm mit jungen, hübschen Mädchen.“
„Das sind Kannibalen!“ Robinson musste sich beherrschen, um nicht zu brüllen. „Wilde. Wenn ich auch nur eines dieser Mädchen anrühren würde, lande ich bei denen am Spieß überm Feuer.
Daraufhin nahm der rote Herr seinen Lolli, wickelte ihn wieder ein, steckte ihn in die Aktentasche und erhob sich. „Dann kann ich dir nicht helfen. Ich werde einen Kollegen von mir zu schicken. Bei ihm bist du besser aufgehoben.“ Mit diesen Worten löste sich der Herr in Rauch auf und verschwand.

Robinson war gerade zu dem Schluss gekommen, dass die Erscheinung seiner Phantasie entsprungen sein musste, da er zu viel Gras geraucht hatte. Da erschien ein Herr ganz in Grün am Feuer, mit Hut, Aktentasche und fahlem Gesicht. „Guten Abend, darf ich mich setzen?“ Und ehe Robinson antworten konnte, saß der grüne Herr neben ihm und zog eine Art Strohhalm aus seiner Tasche. Den steckte er sich in den Mund und lüftete kurz den Hut. „Ich bin NAT 07 und komme von Meister Hora. Er hat einen Vorschlag für dich und deine Zeit.“

Das konnte nicht wahr sein! Robinson raucht kein Gras mehr, doch die Wirkung schien anzuhalten. „Ich vermute, gleich erklärst du mir den Sinn des Lebens.“
„Genau.“ Der grüne Herr zog Luft durch seinen Strohhalm und verkündete stolz: „Der Sinn des Lebens besteht darin, die Natur mit all ihren Lebewesen und Pflanzen nachhaltig zu schützen.“
Robinson sah ihn an und versuchte ruhig zu antworten. „Was glaubst du, was ich hier mache? Ich lebe in der Natur und mit der Natur. Züchte Pflanzen und Ziegen. Sinn erfüllt!“
Der grüne Besucher schüttelte den Kopf. „Du musst lernen, über deinen Tellerrand zu blicken! Was ist mit deiner Insel? Ein Sturm hat den Wald an der Nordseite zerstört und im Süden gibt es eine Dürre, dort sterben die Bäume ab.“
„Das stört mich nicht“, rief Robinson. „Hier in meiner Oase ist alles in Ordnung. Was geht mich der Norden oder der Süden an? Nicht mein Bier.“
„Oh je“, sagte der grüne Herr, spuckte seinen Strohhalm aus und verschwand.

An seiner Stelle erschien gleich darauf ein Herr in Blau, der aus einer kleinen Wasserflasche trank und sich als SAL 09 verstellte.
Bevor der ihm vom Sinn des Lebens erklären konnte, giftete Robinson ihn an: „Du bist sicherlich der Meinung, ich soll meine Zeit zur Rettung des Trinkwassers nutzen? Ist es so?“
„Nicht ganz“, antwortete der blaue Herr freundlich. „Salutem bedeutet Gesundheit. Du solltest deine Zeit nutzen, um deine und die Gesundheit deiner Mitmenschen zu schützen.“
„Da kannst du gleich wieder abdampfen. Wie deine beiden Kollegen. Meine Gesundheit ist in Ordnung, ich bewege mich den ganzen Tag an frischer Luft. Und für die Gesundheit meiner Nachbarn bin ich nicht zuständig. Die fressen sich selbst auf. Das ist eher Freitags Problem.“
Tatsächlich verschwand der blaue Herr ohne ein weiteres Wort.

Etwas enttäuscht blieb Robinson allein zurück. Er hätte gern noch diskutiert. Um seinen grasgeschwängerten Kopf auszulüften, schlenderte er an den Strand und setzte sich in den Sand. Die Wolken zogen orangerot am Horizont übers Wasser. Wie ein Schutzwall aus farbigen Federn umgaben sie die apfelsinenfarbene Sonnenkugel, die langsam im Meer versank.
Da stieg aus seichten Wellen am Ufer eine Riesenschildköte und bewegte sich in Zeitlupe auf Robinson zu. Er wusste nicht, dass sie Kassiopeia hieß und ebenfalls von Meister Hora geschickt worden war. Sie sah ihn mit ihren klugen schwarzen Augen an und auf ihrem Panzer erschien ein Schriftzug mit der Frage:
„Was machst du da?“
Nach den drei bunten Herren kam ihm die Schildkröte fast normal vor. Er las ihre Frage und antwortete: „Nichts!“
„Nichts? Wieso nichts?“, stand jetzt auf dem Panzer.
„Ich mache nichts!“
„Gar nichts?“
„Nein, ich sitze hier!“
„Denkst du irgendetwas?“
„Nichts Besonderes.“
„Solltest du aber. In den nächsten Tagen wird für diese Region ein Tsunami erwartet, der die Insel wegspülen wird. Ich komme, um dich zu warnen.“
„Danke.“
„Was gedenkst du zu tun?“
„Ich? Nichts. Ich will nur hier sitzen.“


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#2

RE: Wiesenwettbewerb Nr. 3 - Story Mix - Nur hier sitzen

in Archiv 16.05.2021 10:47
von Bree • Federlibelle | 4.335 Beiträge | 17407 Punkte

Liebe @writeandride

wie schön, noch ein Beitrag von dir! Ich habe ihn mit Genuss gelesen. Robinson Crusoe + die Figuren aus Momo, zum Teil farblich abgeändert. Eine tolle Idee!
Robinson scheint mit der Zeit ein wenig abgestumpft zu sein, ein einsamer Exzentriker mit egomanischen Zügen. Wer hätte das gedacht ...? Nicht einmal die Aussicht, dass seine Insel weggespült wird, bewirkt, dass er sich um seine Mitmenschen sorgt. Eine nachdenklich machende Geschichte, gespickt mit Komik. Besonders gut gefiel mir der Lollilutscher! Und auch, wie du die Atmosphäre darstellst, den Sonnenuntergang, das knisternde Lagerfeuer ... Ich hatte tolle Bilder im Kopf!
Gern gelesen!

LG
Bree


Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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#3

RE: Wiesenwettbewerb Nr. 3 - Story Mix - Nur hier sitzen

in Archiv 16.05.2021 21:42
von Jana88 • Federlibelle | 564 Beiträge | 1302 Punkte

Was für eine tolle Geschichte. Ich habe Momo zwar bisher noch nicht gekannt, aber die Figuren haben mir sehr gefallen und ich habe mich über Robinson amüsiert. Er will einfach nur da sitzen bleiben. :-)


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Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende *Oscar Wilde
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#4

RE: Wiesenwettbewerb Nr. 3 - Story Mix - Nur hier sitzen

in Archiv 20.05.2021 16:18
von Gini • Federlibelle | 1.797 Beiträge | 3677 Punkte

@writeandride deine Geschichte war amüsant hat aber auch zum
nachdenken angeregt. Wie Bree denke ich auch, dass Robinson abgestumpft ist.
Es interessiert ihn nichts außer seiner Person.
Momo hab ich früher auch mal im Fernsehen gesehen. War sehr beeindruckend, die grauen
Herren mit ihren Zeitfenstern. An die Schildkröte kann ich mich nicht mehr erinnern.
Ein wenig spielt die Geschichte auch auf die ganze Klimasache an.
Der letzte Absatz erinnert auch ein wenig an Loriot. Da fragt sie doch auch, was machst du?
Er sagt dann nichts. Und immer so weiter.


Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.

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#5

RE: Wiesenwettbewerb Nr. 3 - Story Mix - Nur hier sitzen

in Archiv 21.05.2021 06:53
von Anka • Federlibelle | 756 Beiträge | 3343 Punkte

Vielen Dank für eure lieben Kommentare.
@Gini, ich freue mich sehr, dass du das mit der Klima-Sache und mit Loriot gemerkt hast
Das war beabsichtigt. Wenn nicht die Zeichenbeschränkung gewesen wäre, hätte ich das noch deutlicher machen können.
Ich dachte beim Schreiben an Deutschland und seine Bewohner. Eigentlich leben wir hier auch wie im Paradies, doch viele merken das nicht mal. Sie sind so auf sich fixiert. Probleme, die andere Länder haben sind ja weit weg. Nach dem Motto: Hauptsache in meinem Dunstkreis ist alles in Ordnung.

LG von Anka


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#6

RE: Wiesenwettbewerb Nr. 3 - Story Mix - Nur hier sitzen

in Archiv 23.05.2021 09:35
von Doro • Federlibelle | 2.350 Beiträge | 9189 Punkte

Liebe @writeandride ,

zwei Geschichten waren mir durchgerutscht. Eine davon war deine.

Robinson, Momo und Loriot zu verknüpfen - herrlich. Da muss man erst mal drauf kommen.
Ich hab mich köstlich amüsiert beim Lesen.

Robinson ist beneidenswert. Er hat kein schlechtes Gewissen, wenn er nichts tut. Im Gegensatz zu mir (und wahrscheinlich fast allen Frauen), da im Kopf dann immer meine To-do-Liste aufleuchtet und hektisch zu blinken beginnt.

Momo (also das Buch) ist fast 50 Jahre alt und das Thema "Zeit" ist aktueller denn je.

Sehr gern gelesen.

LG
Doro


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