#1

SGZ Nr. 19 - Karsten, der Traum-Mann

in Die Geschichten der Woche 11.05.2021 09:34
von Bree • Federlibelle | 4.337 Beiträge | 17414 Punkte

Ein seltsames Geräusch dringt in Jockels Schlaf und rüttelt ihn sachte wach. Es dringt kein Licht durch seine geschlossenen Lider, also ist es noch nicht Morgen. Gott sei Dank, denn zum Aufstehen ist er noch viel zu müde, seine Glieder fühlen sich bleischwer an. Wenn er sich jetzt bewegen müsste, wäre das ein echter Kraftakt.
Das Geräusch ist immer noch da, und jetzt kann er es erkennen. Es ist ein schwerer, keuchender Atem, direkt hinter seinem Rücken.
Stella!
Er wälzt sich schwerfällig auf die andere Seite. Stella sitzt aufrecht im Bett, ihre Schulter bewegen sich rhythmisch zu ihren Atemzügen.
„Was is’n los?“, murmelt er.
Langsam wendet sie ihm ihr Gesicht zu. Trotz der Dunkelheit bemerkt er, dass ihre Augen größer als sonst aussehen. Sie glänzen im fahlen Licht. Irgendetwas stimmt nicht, also setzt auch er sich auf. „Ist alles okay?“
„Ja, alles gut. Bloß ein Traum“, antwortet sie mit tonloser Stimme, beugt sich zu ihm hinüber und gibt ihm einen flüchtigen Kuss. „Schlaf weiter.“ Damit legt sie sich wieder hin und dreht sich von ihm weg.
Jockel wäre beunruhigt, wenn er hellwach gewesen wäre. Da er aber noch zu gut drei Vierteln im Schlafmodus steckt, lässt er sich wieder in sein Kissen fallen und ist Sekunden später eingeschlafen.

Am nächsten Morgen ist Stella seltsam wortkarg. Und ungewohnt ernst. Sie trinken gemeinsam Kaffee in der Küche, und sie rührt den einen Zuckerwürfel, den sie in ihre Tasse geworfen hat, so lange und in Gedanken versunken, dass es Jockel nicht wundern würde, wenn der Kaffee zum Trinken zu kalt geworden ist. Doch Stella schlürft ihn, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
„Was war denn das für ein Traum letzte Nacht?“, fragt er, als er ihr Schweigen nicht mehr aushält.
Sie hebt den Kopf, sieht ihn an, als bemerke sie seine Anwesenheit erst jetzt, und schüttelt dann den Kopf. „Nichts Besonderes.“ Sie stellt den Becher in die Spüle. „Ich geh ins Bad. Bin spät dran.“
Ratlos schaut er ihr hinterher.
Aus seinem Zimmer ertönt die Miss-Marple-Titelmelodie. Wer ruft ihn denn um diese Zeit an? Er flitzt aus der Küche, sucht mit den Augen die Unordnung im Raum ab, und entdeckt sein Handy schließlich unter einem T-Shirt von Stella auf seinem Schreibtisch.
Das grinsende Gesicht auf dem Display entlockt ihm ein Seufzen, doch er geht ran. „Bist du irre, mich so früh anzurufen?“, will er wissen. „Es ist erst viertel nach sieben.“
„Und trotzdem bist du wach“, trumpft Maibritt auf. „Hör zu, Brüderlein ich sitze mal wieder über der verdammten Sitzordnung für die Hochzeit. Mama möchte unbedingt, dass Tante Hedi mit an unserem Tisch isst, und Karsten besteht darauf, dass Kirsten neben ihm sitzt.“
„Na und?“
„Na und? Es ist nicht genug Platz an dem Tisch für zehn Personen. Neun gingen gerade noch, aber zehn …“
„Kommst du heute noch zu Potte?“
„Also gut. Die Sache ist die: Entweder sitzen du und deine Stella getrennt, oder du musst mit ihr an einem der anderen Tische sitzen.“
„Ich will bestimmt nicht, dass Stella an einem Tisch sitzt, und ich an einem anderen.“
„Ja, das dachte ich mir schon. Dann habt ihr die Wahl zwischen dem Kindertisch und dem von Karstens Sportkumpels.“
Was für eine Auswahl, denkt Jockel genervt. „Muss ich das jetzt beantworten?“
„Bis heute Abend könnt ihr es euch überlegen. Wollt ihr vielleicht vorbeikommen? Heute ist das Probe-Essen. Mama und Papa kommen auch. Es wird bestimmt genug für zwei weitere Personen sein.“
Freies Abendessen? Das klingt nicht übel, denkt Jockel. Laut fragt er: „Wann geht es los?“
„Um halb acht.“

Zwei Stunden vorher holt er Stella in dem Architekturbüro ab, in dem sie arbeitet. Sie ist ein bisschen besser drauf als am Morgen, wirkt aber noch immer ein wenig bedrückt. Als er ihr von Maibritts Einladung erzählt, nickt sie. „Hört sich gut an.“
Von der Sitzordnung sagt er noch nichts. Stattdessen nimmt er Stella fest in die Arme und drückt sie an sich. Zuerst steht sie etwas steif da, doch dann schlingt sie die Arme um ihn und schmiegt sich an seine Brust. „Das tut gut“, murmelt sie.
„Was ist denn heute los?“, fragt er, und fühlt sich ein wenig hilflos dabei.
„Ach, nur dieser blöde Traum. Der hat mich irgendwie verunsichert.“
„Erzählst du mir davon?“
„Okay, unterwegs“, sagt sie, löst sich von Jockel und wartet mit einer Hand am Türöffner darauf, dass er seinen rostroten Opel aufschließt.

Bei Maibritt und Karsten angekommen, hilft Stella Jockels Mutter dabei, im Esszimmer Servietten zu falten. Jockel steht mit Maibritt in der Küche und füllt die gelieferten Köstlichkeiten in handliche Schüsseln, die sie auf den Tisch stellen wollen.
„Ist alles in Ordnung?“, fragt Jockels Schwester neugierig, während sie Bratkartoffeln umfüllt. „Du wirkst schlecht gelaunt, und dass, obwohl es für dich ein Gratis-Essen gibt.“
„Aber im Kreise meiner Familie“, gibt er zu bedenken, doch dann beschließt er, Maibritt zu erzählen, was ihn bedrückt. „Stella hat letzte Nacht geträumt, sie würde in einem Zugabteil sitzen, lauter Leute um sich herum. Und dann wäre der Schaffner gekommen, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Der hat mein Gesicht gehabt, sagt Stella. Und jetzt glaubt sie, der Traum bedeute, dass ich sie kontrollieren würde, und der Zug könne symbolisieren, dass es besser für sie wäre, wenn sie mich verlässt. Sie glaubt an so einen Mist, und zweifelt jetzt an unserer Beziehung.“ Schon der Gedanke, dass ein Traum Auslöser für eine Trennung wäre, verursacht bei Jockel Angst und Wut zugleich.
„Träume haben ja oft eine Bedeutung“, sagt Maibritt nachdenklich.
„Typisch für dich, dass du Salz in die Wunde streust.“
„Ihr solltet mal mit Karsten darüber reden“, schlägt sie vor. „Der kennt sich ganz gut aus mit Traumdeutung.“
Ungläubig starrt Jockel seine Schwester an. „Karsten? Dein Verlobter?“
Dass der Mann, den sonst nur die Gewichte an seiner Hantel interessieren, Ahnung von etwas so Abstraktem wie Traumdeutung haben soll, ist für Jockel so unwahrscheinlich wie die Vorstellung, Donald Trump wäre ab sofort die neue Mutter Teresa.
„Ja, mein Verlobter“, erwidert Maibritt mit gerunzelter Stirn. „Du glaubst wirklich, er ist dumm und oberflächlich, oder?“
Jockel weiß nicht recht, was er antworten soll, also zuckt er nur mit den Achseln.
„Er ist sensibel und sehr empathisch, nur dass du es weißt. Frag ihn ruhig wegen des Traums. Schaden kann es nicht, oder?“
Da ist sich Jockel zwar nicht so sicher, aber vielleicht kann Karsten ja wirklich Stellas Zweifel zerstreuen. „Okay, danke“, sagt er, und tätschelt Maibritts Wange.
Sie schlägt seine Hand weg und weist auf die Behälter mit dem Essen. „Lass den Quatsch und mach dich lieber nützlich.“

Nach dem Essen ergibt sich endlich die Gelegenheit, Karsten wegen Stellas Traum anzusprechen. Jockels Eltern und Maibritt räumen den Tisch ab, und als Stella aufstehen und helfen will, hält Jockel sie am Arm fest. „Warte“, bittet er.
Sie bleibt sitzen. „Worauf?“
Er wendet sich an Karsten, der ihnen gegenübersitzt. „Maibritt sagte mir, du kennst dich mit Traumdeutung aus. Ist das wahr?“
Karsten leckt sich gerade einen Rest Soße vom Zeigefinger und sieht Jockel überrascht an. „Ja, klar. Wieso?“
„Okay, Stella, erzähl ihm von deinem Traum.“
Sie betrachtet argwöhnisch erst Jockel, dann Karsten. Beide blicken sie abwartend an. Stella räuspert sich. „Na gut“, meint sie zögernd, berichtet erst stockend, dann immer flüssiger von allem, was in diesem Zugabteil in Traum passiert ist.
Karsten hört aufmerksam zu, nickt hin und wieder, sagt aber nichts, bis sie geendet hat.
Schließlich ist sie fertig und lehnt sich zurück, als hätte der Bericht sie körperlich angestrengt.
„Was, glaubst du, könnte das bedeuten?“, will Jockel von seinem Schwager in spe wissen.
„Das ist ziemlich eindeutig. Zug-Träume gibt es recht häufig, in den verschiedensten Formen. Der Schaffner ist sehr oft eine Figur, die dem Träumenden sehr wichtig ist, weil er ein guter Freund ist, der ihm – in diesem Falle dir“, er lächelt Stella an, „mit Rat und Tat zur Seite steht, und in guten wie schlechten Zeiten für dich da ist.“
Jockel macht große Augen und greift nach Stellas Hand. „Ist das wahr?“
„Ja. Ein volles Abteil bedeutet übrigens, dass der Träumende viele Freunde hat. Ein leeres ist das schon bedenklicher, es steht für Kontaktschwierigkeiten. Der Zug ist gefahren, nicht wahr?“, fragt er Stella. „Ich meine, er stand nicht im Bahnhof, oder?“
„Nein, er ist gefahren“, erinnert sich Stella.
„Ruhig? Oder war die Fahrt eher holprig?“
Sie denkt einen Augenblick nach. „Ruhig, würde ich sagen.“
„Dann ist alles gut. Eine Zugfahrt steht für Veränderungen im Leben, und die ruhige Fahrt bedeutet, dass es dabei keine Turbulenzen gibt.“
„Also ist so ein Traum kein Zeichen dafür, dass ich vor etwas fliehen müsste?“
Karsten schüttelt den Kopf. „Nicht im Geringsten. Du kannst ganz beruhigt sein.“
Stella drückt Jockels Hand und lächelt ihn verliebt an. „Dann bin ich das jetzt auch.“
Maibritt kommt herein. „Habt ihr zwei euch jetzt entschieden, an welchem Tisch ihr sitzen wollt? Bei den Kindern oder bei Karstens Sportfreunden?“
„Wir haben uns für die sportliche Variante entschieden“, sagt Stella.
Jockel sieht sie an. „Ach, haben wir?“
Sie schenkt ihm ein strahlendes Lächeln.
„Ich habe wenig Lust auf Unterhaltungen über Feuerwehrmann Sam und Prinzessin Lilifee.“
Jockel seufzt. „Schön, dann reden wir eben über Muskelaufbau und Trainingsintervalle. Super!“


Beim Abschied bedankt sich Jockel bei Karsten für seine Hilfe. Auf dem Nachhauseweg sagt er zu Stella: „Vielleicht habe ich den Zukünftigen meiner Schwester doch falsch eingeschätzt. So übel ist er gar nicht.“
„Stimmt. Er ist ein echter Traum-Mann."
Jockel will schon empört widersprechen, dann bemerkt er das ironische Grinsen in Stellas Gesicht, und kapiert das Wortspiel. „Jedenfalls bist du meine Traumfrau“, sagt er, und streckt die rechte Hand aus. „Die Fahrkarten, bitte!



Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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#2

RE: SGZ Nr. 19 - Karsten, der Traum-Mann

in Die Geschichten der Woche 13.05.2021 12:32
von Gini • Federlibelle | 1.797 Beiträge | 3677 Punkte

Liebe @Bree
Ich fass es nicht. Karsten kann Träume deuten? Da bin ich mal gespannt, was er noch so drauf hat.
Wer weiß, vielleicht wird er ja noch ganz eng mit Jockel. Und er schaut bewundernd zu ihm auf
Manchmal würde ich auch gerne mal meine Träume deuten lassen. Was ich so mir so alles zusammenträume
in der Nacht. Unglaublich.


Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.

Wilhelm Busch (1832-1908)
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#3

RE: SGZ Nr. 19 - Karsten, der Traum-Mann

in Die Geschichten der Woche 13.05.2021 14:37
von Doro • Federlibelle | 2.350 Beiträge | 9189 Punkte

Liebe @Bree ,

wie man sieht, kann der erste Eindruck täuschen. Ich bin gespannt, ob Karsten noch weitere sympathische Eigenschaften hat. Bisher kam er nicht so gut weg in den Geschichten bzw. wirkte sehr unsympathisch. Ich lass mich überraschen.

Maybritt ist nach wie vor eher zickig. Aber Verwandtschaft kann man sich nicht aussuchen.

Gern gelesen.

LG
Doro


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