#1

SGZ 14 - Die richtige Entscheidung fürs Leben

in Die Geschichten der Woche 05.04.2021 20:02
von Gini • Federlibelle | 1.837 Beiträge | 3793 Punkte

Die Frauenärztin guckte sorgenvoll auf das Utraschallgerät vor ihr, während die Kamera über dem mit glibschigen Gel auf Lenas Bauch wanderte.
Lena wurde langsam unruhig und schickte einen ängstlichen Blick zu Sören, der neben der Liege stand und ihre Hand quetschte. Auch er schien nervös.

„Was ist los? Stimmt irgendetwas nicht?“
Sören fühlte sich anscheinend in diesem Moment in der Verantwortung, diese Frage zu stellen.
Lena war ja gerade anscheinend nicht in der Lage dazu.

„Leider muss ich Ihnen etwas sagen. Ihr Kind leidet unter Trisomie 21. Das muss aber wirklich nicht das Ende der Welt bedeuten. Lassen Sie uns nach nebenan gehen und darüber sprechen.“
Sie reichte Lena einen Stapel Papiertücher, damit sie das Glibberzeug von ihrem Bauch wischen konnte. Vorsichtig säuberte sie ihn. Als würde sie Angst haben, ihrem Baby wehzutun.
Sie sah in Gedanken ihr Kind schon vor sich. Die leicht schräggestellten Augen, die etwas flache Stirn und den runden Kopf.

Alles Merkmale für mongoloide Kinder. Hinzu kam noch die kleine dickliche Firgur, die sie auch meist besaßen. Diese Bilder liefen wie ein kleines Kopfkino hinter ihrer Stirn, währen sie sich aufrichtete und nach Sörens Hand griff.
So hatten sie sich den heutigen Ultraschall wirklich nicht vorgestellt. Voller Freude waren sie in die Frauenarztpraxis gekommen. In der Gewissheit, dass alles gut war.
Sie hatten sich entschieden, diese Nackenfalten Untersuchung zu machen.

Einfach nur, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war. Und nun das.
Mit schweren Herzen nahmen sie vor dem Schreibtisch der Ärztin Platz.
Lena und Sören hatten ihre Hände wie zwei Ertrinkene ineinander verschlungen um sich Hakt zu geben.

„Die gute Nachricht in dieser Situation ist, dass Ihr Kind keinen Herzfehler hat. Das ist bei solchen Kindern ja auch durchaus denkbar, dass sie etwas mit dem Herzen haben.“
Lena sah ihren Mann verstört in die Augen. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht loszuheulen.
Sören ging es anscheinend nicht anders. Er hatte kleine Schweißperlen auf der Nase. Ein Zeichen, dass er innerlich angespannt war.

„Sie haben für Ihre Entscheidung, diese Kind zu bekommen, noch eine kleine Hintertür offen.
Das mag jetzt etwas herzlos klingen, aber ich muss Ihnen ja alle Wege klar darlegen.“

Die Ärztin räusperte sich, als wenn ihr das Sprechen schwerfiel. So oft musste sie wohl auch nicht so eine Ankündigung machen, dachte Lena.
Lena hörte die Stimme der Ärztin wie aus weiter Ferne und durch Watte.
„... Deswegen hat der Getztgeber diese Hintertür für die werdenden Eltern geschaffen.
Sie haben als Zeit bis zur 24. Woche um eine endgültige Entscheidung zu treffen.“

Wofür hab ich bis zur 24. Woche Zeit? Lena grübelte, konnte sie aber nicht mehr an den Anfang des Satzes erinnern. Sie wollte einfach nur noch nach Hause. Sich die Decke über den Kopf ziehen und bis zur Geburt durchschlafen.
Als Sören und sie endlich im Wagen saßen, drehte er sich zu Lena hin.
„Schatz, wollen wir wirklich diesem kleinen Wesen so ein Schicksal zumuten?
Was ist denn, wenn wir eines Tages nicht mehr sind? Dann muss sie vielleicht in ein Heim.“
Wie weit dachte ihr Mann? Fragte sich Lena. An so etwas kann man doch jetzt noch nicht denken.
„Bitte, fahr mich einfach nach Hause. Ich will heute nicht darüber reden.“
Lena schloss die Augen und machte Sören damit klar, dass sie schlafen wollte.
„Wir sprechen morgen darüber,“ murmelte sie und schaltete komplett ab.
Am nächsten Tag ging Lena wie in Trance ins Büro. Sie konnte es einfach nicht begreifen, dass sie ein behindertes Kind bekommen sollten.
Mit wieviel Liebe hatten sie das Prinzessinnenzimmer für ihre Tochter eingerichtet. Sie wussten schon seit zwei Wochen, dass es ein Mädchen werden würde. Luna sollte sie heißen.
Lena hatte sich immer ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen und einer zarten Figur vorgestellt.
Wie sie mit ihrem rosa Tutu Pioretten in der Ballettschule drehen würde und ihre Zöpfe sich dabei um ihr liebliches Gesicht schwingen. Und nun? Würde das alles nur ein Traum bleiben.
Sie hatte noch einen Monat Zeit, um zu entscheiden, ob sie dieses Kind kriegen wollte. Sören hatte ihr an dem Abend noch genau erklärt, was die Ärztin gesagt hatte. Sie war ja gar nicht mehr in der Lage gewesen, irgend etwas zu verstehen.

„Lena, ich hab den ganzen Tag nachgedacht. Wir können unserer Tochter dieses Leben nicht zumuten. Bitte sei doch vernünftig.“
Sören hatte tiefe Sorgenfalten auf der Stirn, als sie Abends gemeinsam auf der Couch saßen.
Ganz fest hatte er ihre Hände gedrückt, um seiner Aussage Kraft zu geben.
Lena saß plötzlich wie eine Statue da und spürte ein kleines Glucksen in ihrem Bauch.
So als hätte man zuviel Sprudelwasser getrunken. Es fühlte sich an, als würde ihr Bauch etwas zu ihr sagen wollte. Ganz automatisch legte sie ihre Hände darauf. So als würde sie das Kind darin schützen wollen.

„Sören, gib mir Zeit. Ich weiß noch nicht, was ich machen werde. Morgen gehe ich zu Tina und besuche sie in der Behindertenwerkstatt. Sie hat mich heute angerufen und ich habe ihr von unserer Tochter erzählt.“
Lena guckte Sören bittend um Verständnis an. Sie konnte jetzt einfach noch kein endgültiges Für und Wider entscheiden. Es ging schließlich um ein Menschenleben. Sören nickte ergeben.
„Lena wie schön, dass du gekommen bist. Schau mal, wir basteln gerade kleine Ostergeschenke für die Eltern unserer Kinder.“
Tina guckte liebevoll auf ihre kleinen Schützlinge, dass Lena ganz warm ums Herz wurde. Ein kleines Mädchen kam ziemlich ungestüm auf sie zu. Ihr kleinen Äuglein in dem runden, etwas flachen Gesicht, strahlten Lena an.
„Guck mal, dass schenk ich dir. Hab ich grad gebastelt.“
Sie drückte Lena das kleine Osterei in die Hand und umarmte sie dann. Lena standen plötzlich die Tränen in den Augen.

„Das hast du aber ganz hübsch gemacht. Vielen Dank.“
Ihr Blick fiel auf ein Schild, dass an der Wand hin. Darauf stand in großen Buchstaben:


‘Jedes Kind hat ein Recht auf Leben.‘


Dieser Spruch brannte sich ganz tief in Lenas Herz. Fast war es wie ein Versprechen.

Als sie wieder zu Hause war, nahm sie ihren Laptop und googelte Seiten über Menschen mit Trisomie 21.
Sie konnte dort lesen, dass es ganz liebevolle Menschen waren. Fröhlich und auch unkompliziert. Einige waren später sogar in der Lage, ein eigenständiges Leben zu führen. Natürlich gab es auch junge Erwachsene die ständige Betreuung brauchten. Aber konnte man das alles vorher wissen?
Wieder ging ein kleiner Gluckser durch Lenas Bauch. Liebevoll streichelte sie darüber.
Für sie war die Entscheidung plötzlich gar nicht mehr schwer.
Sören würde sie am Abend damit überraschen. Sie liebten sich doch und wollten immer füreinander da sein.

Lena nahm ihr Handy und wählte die Nummer ihrer Frauenärztin.
„Ich habe mich für mein Kind entschieden“, sagte sie, als sie sich meldete.
„Die Hintertür können Sie schließen.“
Einen Moment war Stille am anderen Ende. Als müsse ihr Ärztin das erst einmal sacken lassen.
„Ich freue mich sehr darüber. Wissen Sie, diese Kinder haben unheimlich viel Liebe zu geben. Man kann sie nur zurückgeben. Ich erwarte Sie dann nächste Woche wieder zur Untersuchung.“
Die Stimme klang in Lenas Ohren ein wenig so, als müsste ihre Frauenärztin ein paar Tränchen runterschlucke.

Lena hatte das Gefühl, als würde ein großer Stein von ihrem Herzen fallen.
Sie freute sich jetzt auf den Abend mit ihrem Mann.
Jetzt könnten sie gemeinsam Pläne für die Zukunft mit so einem lieben Kind machen.


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zuletzt bearbeitet 08.04.2021 21:27 | nach oben springen

#2

RE: SGZ 14 - Die richtige Entscheidung fürs Leben

in Die Geschichten der Woche 05.04.2021 22:09
von Doro • Federlibelle | 2.515 Beiträge | 9876 Punkte

Liebe @Gini ,

wieder ein sehr berührender Text. Ich musste ein paar Mal schlucken. Ich bin sehr froh, dass ich so eine Entscheidung nie treffen musste.

Hoffentlich enttäuscht Sören sie nicht und trägt ihre Entscheidung mit.

In der Spielgruppe einer unserer Kinder war eine Mutter, die in der Schwangerschaft eine Fruchtwasseruntersuchung hatte machen lassen. Ihr erging es so ähnlich wie Lena, als der Arzt ihr mitteilte, dass sie ein Kind mit Downsyndrom bekommen würde. Auch sie hatte Zeit, sich zu entscheiden. Und wie Lena hatten sie und ihr Mann sich für das Kind entschieden. Allerdings bekam sie ein vollkommen gesundes Kind. Das Labor hatte zwei Proben vertauscht.

Eine kleine Erbse:

Zitat von Gini im Beitrag #1
Sören fühlte sich anscheinend in diesem Moment in der Verantwortung, diese Frage zu stellen.
Lena war ja gerade anscheinend nicht in der Lage dazu.
Das 2. anscheinend würde ich weglassen. Du schreibst ja aus Lenas Perspektive, also weiß sie, dass sie nicht dazu in der Lage ist.

Gern gelesen.

LG
Doro


Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)
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#3

RE: SGZ 14 - Die richtige Entscheidung fürs Leben

in Die Geschichten der Woche 06.04.2021 13:23
von Ranito • Forums-Schmetterling | 156 Beiträge | 419 Punkte

Zitat von Gini im Beitrag #1
Lena und Sören hatten ihre Hände wie zwei Ertrinkene ineinander verschlungen
Sicherlich eine schwere Entscheidung, aber irgendwie doch die einzig richtige Entscheidung.

Sehr einfühlsam geschrieben. Gerne gelesen!


-- + —
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* DANKE * für jeden neuen Tag - jeden Moment - jede Geste - jede Reaktion, den/die ich erleben darf! Doch wem darf ich eigentlich * DANKE * sagen? Ich wüsste es so gerne ... Alles nur durch Zufall entstanden, wie es so ist? Nein, das kann nicht möglich sein! Gut, dass uns Menschen zumindest dieses Geheimnis bis heute verborgen bleibt. Der Glaube ist ganz sicher ein guter Lösungsansatz! Träumen wir weiter und hoffen auf ein gemeinsames Leben ... auch danach. Für hier und bis jetzt in jedem Fall erst einmal: * DANKE *
— + —
zuletzt bearbeitet 06.04.2021 13:24 | nach oben springen

#4

RE: SGZ 14 - Die richtige Entscheidung fürs Leben

in Die Geschichten der Woche 06.04.2021 16:15
von Gini • Federlibelle | 1.837 Beiträge | 3793 Punkte

@Doro
Danke für dein Feedback und deine Erbse. Die Stunde ist immer so schnell rum,
da übersieht man schnell etwas.
Das hab ich auch schon mal gehört, dass ein Baby kerngesund war. Obwohl
die Ärzte vorher etwas anderes gesagt haben. Ich finde das ganz schön mutig, sich für
so ein Kind zu entscheiden. Aber wie gesagt, jedes Kind hat ein Recht auf Leben.
Natürlich nur wenn es nicht schwerstbehindert ist. Wir hatten auch mal einen Bekannten, dessen
Kind war so sehr behindert, dass es nichts konnte.
Wir können froh über unsere gesunden Kinder sein.

@Ranito
Danke für dein Lob. Ja, das ist immer eine schwere Entscheidung, würde ich sagen.
Ich bin froh, dass ich das nie musste.


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#5

RE: SGZ 14 - Die richtige Entscheidung fürs Leben

in Die Geschichten der Woche 06.04.2021 16:50
von Bree • Federlibelle | 4.647 Beiträge | 19106 Punkte

Liebe @Gini

erneut ein sehr dramatisches und auch aktuelles Thema von dir, sehr warmherzig erzählt. Diesmal sogar mit Happy-End!
Auch ich bin sehr froh, dass mir so eine Entscheidung erspart blieb, zumal ich bei Louisas Geburt bereits 39 war. Das kann ja durchaus ein Faktor sein. Ich weiß ehrlich nicht, ob ich mich so wie Lena entschieden hätte. Aber ich ziehe den Hut vor allen Eltern, die sich dieser Aufgabe stellen.

Vielleicht hat Lena ja Glück und das Labor hat - wie in Doros Beispiel - ebenfalls die Proben vertauscht.

LG
Bree


Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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#6

RE: SGZ 14 - Die richtige Entscheidung fürs Leben

in Die Geschichten der Woche 06.04.2021 16:54
von Gini • Federlibelle | 1.837 Beiträge | 3793 Punkte

Danke @Bree für dein Feedback.
Meine Tochter war bei ihrem ersten Kind auch schon 38. Und bei Fiete sogar schon 42.
Aber sie haben immer gesagt, dass sie auch so ein Kind akzeptieren würde.
Mein Schwiegersohn ist sehr gläubig. Von daher würde eine Abtreibung nie in Frage kommen.
Für meinen Sohn wäre es nie in Frage gekommen, so ein Kind zu bekommen. Also seine Freundin.
So unterschiedlich können die eigenen Kinder sein.


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#7

RE: SGZ 14 - Die richtige Entscheidung fürs Leben

in Die Geschichten der Woche 08.04.2021 21:16
von Jana88 • Federlibelle | 573 Beiträge | 1320 Punkte

Oh Wahnsinn. Da wird mir wieder mal klar, wie unverschämt glücklich ich bei jeder Untersuchung gewesen bin. Mir war völlig klar, das alles in Ordnung ist, und so war es auch.
Aber das ist nicht selbstverständlich, das merkt man immer wieder.

Ein sehr berührender Text. Wie schön und mutig, sich für das Kind zu entscheiden.


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Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende *Oscar Wilde
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#8

RE: SGZ 14 - Die richtige Entscheidung fürs Leben

in Die Geschichten der Woche 08.04.2021 21:30
von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.300 Beiträge | 10272 Punkte

Liebe @Gini, eine wunderbar Geschichte. Man ist wieder dicht an den beiden Figuren der werdenden Eltern dran und kann alle Sorgen und Bedenken so unglaublich gut verstehen. Kein Wort ist hier zuviel oder überflüssig. Dieser Schreibstil und die "schwierigen Themen", die du aufgreift, gefallen mir total gut.
Ich selber wüsste nicht, wie ich mich an Lenas Stelle entschieden hätte, aber in deiner Geschichte habe ich mich für sie gefreut, es fühlte sich einfach richtig an.
Liebe Grüße
C Lila


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Unsere größte Schwäche liegt im Aufgeben. Der sicherste Weg zum Erfolg ist immer, es noch einmal zu versuchen.
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#9

RE: SGZ 14 - Die richtige Entscheidung fürs Leben

in Die Geschichten der Woche 08.04.2021 21:53
von Gini • Federlibelle | 1.837 Beiträge | 3793 Punkte

@Carlotta Lila
Danke für dein Feedback. Ich wüsste tatsächlich auch nicht wie ich mich entscheiden sollte. Aber zum Glück sind wir ja aus dem gebärfähigem Alter raus.
Ich zumindest.


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