#1

SGZ Nr. 11 - Der Käsekuchen

in Die Geschichten der Woche 15.03.2021 12:36
von Ranito • Forums-Schmetterling | 156 Beiträge | 419 Punkte

Der Käsekuchen

Einhundert Quadratmeter in der dritten Etage. Diese große Fläche bewohnte Amelie ganz alleine und nur für sich. Nach den zwei Kindern, Heiko und Annemarie, die inzwischen glücklich verheiratet einige hundert Kilometer entfernt wohnten, war auch ihr lieber Mann Egon seit nun mehr als fünf Jahren nicht mehr an ihrer Seite. So viel hatten sie noch gemeinsam geplant, aber ein plötzlicher Schlaganfall riss ihn mit gerade mal siebzig Jahren mitten aus seinem, aus ihrem gemeinsamen, Leben heraus.

Zur Beerdigung von Egon waren sie noch alle erschienen und versprachen, immer für sie da zu sein, sie zu jeder Festlichkeit einzuladen, sie nicht zu vergessen. Doch bis auf wenige Anrufe in der Woche, für die Amelie die Nummern der Bekannten und Verwandten zumeist selbst anwählte, war es seit Egons Tod still geworden, furchtbar still sogar. Einzig allein der Siamkater Peter war noch ihr Kontakt. Häufig erwischte sie sich dabei, mit ihm wie mit einem Menschen zu sprechen, doch bis auf geduldiges Schnurren verhallten ihre Selbstgespräche in der viel zu großen Wohnung.

Auch zu den Nachbarn in den anderen Wohnungen hatte Amelie nur wenig Kontakt. Früher hatte sie noch gedacht: „Was gehen mich die fremden Leute an?“, heute würde sie gerne, sehr gerne, mit ihnen sprechen, aber irgendwie traute sie sich außer kurzen Grußformeln nicht. Warum jetzt auf einmal Kontakt zu den eigentlich fremden Nachbarn aufnehmen? Das könnte doch den Eindruck erwecken, sie wäre neugierig und danach war ihr nicht der Sinn, dafür war Amelie einfach zu stolz.

Doch die Nachbarn interessierten sie schon. Frau Kratzke von gegenüber erhielt fast jeden Tag ein Päckchen. Kaum hörte sie die Schelle im Treppenhaus, eilte Amelie auch schon zu ihrer Haustür, stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute gebannt durch den centgroßen Spion, um nichts zu verpassen. Meist waren es Pakete mit der Aufschrift eines großen TV-Versenders, die die Nachbarin erhielt, manchmal war jedoch auch ein gelber Postkarton dabei - sicherlich ein lieber persönlicher Gruß aus der Ferne.

Nein, dieses Warten auf die Klingel bei Frau Kratzke reichte Amelie in ihrem trüben Alltag schon lange nicht mehr. Am Fensterbrett hatte sie es sich gemütlich eingerichtet. Ein Barhocker stand dort und mehrere Kissen lagen auf der Fensterbank. So wurde es immer mehr zur Tradition der alten Dame, den Paketboten bereits im Vorhinein in seinem gelben Wagen kommen zu sehen. Holte er die immer neuen Pakete aus dem Wagen heraus und schritt Richtung ihres Mehrfamilienhauses, eilte Amelie auch schon zur Haustür und wartete gespannt auf das Klingelgeräusch bei der Nachbarin.

Natürlich gehörte auch der sich daran anschließende konzentrierte Blick aus dem Türspion weiter zu ihrer Beobachtung. Zu gerne hätte sie Mäuschen gespielt und erfahren, was Frau Kratzke denn nun wieder schönes bestellt hatte. Benötigte diese fast gleich alte Dame wahrlich so viele Dinge? Oder verschenkte sie die bestellten Sachen weiter an Freundinnen und Freunde?

Auch wenn es Amelie in ihrer Einsamkeit nicht weiter half, irgendwie hatte sie den Eindruck, dass Frau Kratzke in Wirklichkeit ein Leben ähnlich wie das ihrige führte. Vielleicht gefiel ihr sogar diese Vermutung, denn warum sollte es anderen Menschen besser gehen als ihr?

Wie Amelie lebte auch Frau Kratzke seit Jahren alleine, so viel wusste sie von ihr. Die Kinder waren längst ausgezogen und von ihrem häufig betrunkenen Ehemann hatte sie sich schon vor Jahrzehnten getrennt. Da auch Frau Kratzke außer dem Postboten selten Besuch bekam und nur für Lebensmitteleinkäufe oder Arztbesuche ihre Wohnung verließ, war sie vielleicht in der gleichen misslichen Lage wie sie selbst.

Und die Pakete? Vielleicht saß Frau Kratzke den Tag über ähnlich einsam wie sie regelmäßig vor der Glotze und hatte als einen der wenigen Kontakte die TV-Moderatoren des Bestellsenders mit den immer freundlichen Telefonistinnen zu ihren Bekannten gemacht. Irgendwie traurig, für einen telefonischen Kontakt Ware bestellen zu müssen. Doch das Bestellen der Ware hatte ja noch einen weiteren schönen Lebensinhalt zur Folge: das Warten auf den netten Paketfahrer, den sie nur zu gerne zu einem Kaffee in die eigenen vier Wände einlud - dies hatte Amelie schon des öfteren durch ihren Hausspion, geradezu neidisch, mitverfolgen müssen.

Amelie war sich dieser, ihrer Annahme, inzwischen sehr sicher. Warum nicht den Versuch unternehmen, dem Ausspionieren der Nachbarin und ihrem eigenen trüben Dasein etwas anderes, etwas Neues, entgegen zu setzen, einen großen Schritt nach vorne zu wagen?

Gerade war der selbst gebackene Käsekuchen fertig geworden. Gleich würde Amelie sich umziehen und anschließend den Weg nach vorne wagen, den Weg aus ihrer eigenen Isolation heraus. Vielleicht war dies für ihre Nachbarin ähnlich, auch sie würde damit ein wenig mehr aus ihrer Einsamkeit herauskommen.

Hoffentlich würde sie ihr Anschellen mit der Kuchenplatte in der Hand nicht mit einem stolzen Lächeln zurückweisen. Aber warum sollte sie? Wäre es nicht längst an der Zeit, aus Eins und Eins Zwei zu machen? Zitternd stand Amelie nun schon eine Minute unschlüssig vor der Haustür von Frau Kratzke. Gerade drückte sie nunmehr fest entschlossen auf den Klingelknopf der Nachbarin. Das bestens vertraute Klingelgeräusch erklang. Das Herz pochte Amelie bis zum Hals.


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#2

RE: SGZ Nr. 11 - Der Käsekuchen

in Die Geschichten der Woche 16.03.2021 12:04
von Bree • Federlibelle | 4.335 Beiträge | 17407 Punkte

Lieber @Ranito

genau wie Gini mit ihrer Freundinnen-Geschichte hörst auch du gerade dort auf, wo es interessant wird. Tststs! *kopfschüttel*
Aber so kann ich die Story in Gedanken so weiterspinnen, wie es mir gefällt. Und natürlich werden die zwei schnell gute Freundinnen und können so gemeinsam die Zeit verbringen.
Möglich wären aber auch andere Szenarien ...
- Die Nachbarin entpuppt sich als Kratzbürste und will gar keinen Kontakt zu Amelie
- In den Paketen, die sie bekommt, befindet sich etwas Geheimnisvolles oder Verbotenes
- oder oder oder ...

Vielleicht hast du ja auch eine originelle Idee, wie man die Geschichte weiterschreiben könnte.

Kleiner Tipp am Rande:
Um ein wenig mehr aktive Handlung in die Story zu bringen, fände ich es prima, wenn Amelie ihren Gedanken nachhängt, während sie etwas tut, z. B. den Käsekuchen backen. Während sie das Mehl abwiegt, könnte sie an ihre Familie denken, beim Eier zerschlagen überlegt sie, was wohl in den Paketen für ihre Nachbarin ist, usw. Auf die Weise könntest du noch Geräusche (Mixer) und Gerüche (der Kuchen im Ofen) in die Story einbauen, und damit die Sinne des Lesers ansprechen. So wird die Geschichte noch lebendiger.

Wie auch immer, ich hoffe sehr, dass es Amelie gelingt, ein wenig mehr Farbe in ihr Leben zu bringen. Und ich will ein Stück Käsekuchen. Jetzt!

LG
Bree


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#3

RE: SGZ Nr. 11 - Der Käsekuchen

in Die Geschichten der Woche 16.03.2021 16:47
von Ranito • Forums-Schmetterling | 156 Beiträge | 419 Punkte

Danke für Deine lieben Worte und den wertvollen Tipp!

Den Käsekuchen holen wir nach, ganz bestimmt! Vielleicht eines Tages, wenn es ein Autorentreffen geben sollte und wir uns - nicht nur über unsere Geschichten - ein klein wenig austauschen dürfen!


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#4

RE: SGZ Nr. 11 - Der Käsekuchen

in Die Geschichten der Woche 17.03.2021 14:45
von Gini • Federlibelle | 1.797 Beiträge | 3677 Punkte

@Ranito
Das ist eine schöne Geschichte. Ich finde es tröstlich, wenn die beiden Damen Freunde werden.
Ich hätte auch gerne gewusst, was da alles in den Paketen ist.
Aber das ist eben dein Geheimnis.
Mir hat deine Geschichte richtig gut gefallen. Sie hat sowas trötliches.


Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.

Wilhelm Busch (1832-1908)
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#5

RE: SGZ Nr. 11 - Der Käsekuchen

in Die Geschichten der Woche 17.03.2021 16:46
von Ranito • Forums-Schmetterling | 156 Beiträge | 419 Punkte

Danke für Deine lieben Worte, Gini!

Was in den Paketen ist, weiß ich auch nicht, aber ich kenne eine alleinstehende Dame, die wahrlich fast jeden Tag ein Paket von diesen Fernsehsendern erhält!

Da der Paketbote nicht zu ihr hochlaufen will, schellt er gerne bei uns im Erdgeschoss. Die Dame ruft dann von oben regelmäßig nach ihm, da sie sein Kommen wirklich vom Fenster aus beobachtet hat.

Wir haben ansonsten guten Kontakt zu der Dame.

Da siehst Du mal wieder:
die schönsten Geschichten schreibt das Leben!


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#6

RE: SGZ Nr. 11 - Der Käsekuchen

in Die Geschichten der Woche 19.03.2021 10:03
von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.151 Beiträge | 9415 Punkte

Hallo @Ranito!
Sie gefallen mir sehr gut, alle diese Vorüberlegungen, die Amelie anstellt, bevor sie sich traut, die Nachbarin zu besuchen! Das ist so eine typische Situation in Wohnhäusern: Man kennt sich und kennt sich doch nicht und jeder lebt in seiner eigenen Einsamkeit.
Na ich bin ja neugierig wie es - vielleicht - weitergeht, wenn die Türe geöffnet wird! Immer wird man ja nicht freundlich empfangen. Einsamkeit macht schrullig und erzeugt auch diesen ganz eigenen Stolz: "Ich brauch niemanden".
LG
Carlotta Lila


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