#1

SGZ Nr. 9 - Auf dem Dach

in Die Geschichten der Woche 28.02.2021 12:14
von Sophie Reichardt • Fleißbiene / Fleißdrohne | 60 Beiträge | 147 Punkte

Die Dachluke ließ sich nur schwer öffnen. Maries dünne Ärmchen zerrten mit ganzer Kraft an dem Griff, bis er schließlich nachgab und die Luke sich mit einem lauten, hässlichen Quietschen öffnete. Erschrocken hielt Marie inne. Hatte sie jemanden aufgeweckt? Nein, keine Stimmen, keine Schritte, zum Glück. Sie wartete noch kurz, dann schob sie sich einen Hocker zurecht und kletterte hinaus.

Draußen wehte ein leichter Wind und trocknete den Schweiß auf Maries Stirn. Wie gut das tat! In ihrem Zimmer, nein, im ganzen Haus war es unerträglich stickig gewesen. Marie atmete ein paarmal tief durch, bevor sie ihren Aufstieg begann. Der Weg war nicht besonders steil, stattdessen lag die Schwierigkeit darin, nicht nach unten zu sehen, denn das Haus war ziemlich hoch. Aber das war kein Problem. Sie war ja schon groß und Höhenangst hatte sie auch nicht mehr. Nur einmal geriet sie kurz in Gefahr. Eine Sekunde lang passte sie nicht auf und schon rutschte sie ein Stück hinunter. Panisch streckte Marie die Arme aus und schaffte es, sich an zwei Ziegeln festzukrallen. „Jetzt bloß nicht schlappmachen“, ermahnte sie sich und zog sich wieder nach oben. Als sie am Dachfirst ankam, durchströmte sie wilder Stolz. Ganz allein hatte sie es auf das hohe Dach geschafft! Und als sie abgerutscht war, hatte sie nicht geschrien! Zufrieden setzte sie sich auf den First, gleich neben den Schornstein, damit sie notfalls etwas zum Festhalten hatte.

Nachdem sie sich ein bisschen erholt und die klare Sommernachtluft genossen hatte, tat sie endlich das, wofür sie diese Klettertour auf sich genommen hatte. Sie hob den Kopf und sah hinauf zum Himmel. Ihre Augen wurden riesengroß, als sie die glitzernde Pracht sah. Tausende und abertausende leuchtende Punkte waren über der Stadt verteilt, sodass sie gar nicht wusste, wo sie zuerst hinsehen sollte. So vertieft war sie in diesen tollen Anblick, dass sie die Dachluke gar nicht hörte. Erst als jemand direkt neben ihr „Nennst du das Nachtruhe?“ flüsterte, erschreckte sie sich so sehr, dass sie beinahe vom Dach gefallen wäre, hätte sie nicht im gleichen Moment ein starker Arm festgehalten. Marie blickte zögerlich in das nur schemenhaft erkennbare Gesicht ihres Vaters – Gott sei Dank, er war nicht sauer. Nur sehr, sehr besorgt. „
Wir haben dir doch gesagt, dass du nicht alleine hier rumklettern sollst. Weißt du, wie schnell man abstürzen kann?“
„Ich bin aber nicht abgestürzt“, verteidigte sich Marie, „Ich wollte bloß die Sterne sehen. Und vielleicht auch Sternschnuppen. Außerdem bist du doch jetzt da. Da passiert bestimmt nichts.“
Papa musste lachen. Dieses raffinierte kleine Biest. Als ob er jetzt noch mit ihr schimpfen könnte. Er hatte es sich auch auf dem Dachfirst bequem gemacht und beobachtete gemeinsam mit seiner Tochter den Nachthimmel.


„Kannst du ein Sternbild erkennen?“, fragte er.
„Na klar, den großen Wagen“, rief sie stolz und zeigte darauf, „Ach ja, und das Himmels-W!“
„Genau. Man kann sogar dein Sternzeichen sehen.“
Marie war ganz aufgeregt: „Echt? Wo?“
„Dort über dem Kirchturm. Das, das ein bisschen so aussieht wie ein Bügeleisen.“
Sie brauchte ein Weile, bis sie den Löwen, denn das war ihr Sternzeichen, in dem ganzen Durcheinander gefunden hatte.
„Er passt zu dir“, meinte ihr Vater.
„Ja, nur dass Löwen leider nicht klettern können“, warf Marie ein.
„Doch, das können sie“, erklärte Papa und als Marie ungläubig dreinschaute, erzählte er ihr von den Baumlöwen in Tansania.
„Die meisten Zeit sind sie schon auf dem Boden, aber sie klettern manchmal auf Bäume, vermutlich, um einen besseren Ausblick zu haben.“
„Wie ich!“, unterbrach ihn Marie.
„Ja. Und außerdem bist du genauso mutig.“
Sie lächelte und lehnte sich an ihn. Eine Weile war es vollkommen still.


Dann, ganz plötzlich, schrie sie: „Eine Sternschnuppe!“
Sofort suchte Papa den Himmel ab. „Das ist“ – bloß ein schnelles Flugzeug, hatte er sagen wollen. Doch Maries Gesichtsausdruck und die Art, wie sie das gesagt hatte, machten deutlich, dass sie das ganz genau wusste. Er schmunzelte und sagte: „Dann darfst du dir jetzt was wünschen. Aber du darfst es nicht aussprechen!“
„Weiß ich doch“, entgegnete Marie, schloss die Augen und dachte an ihren Wunsch. Papa sah aus dem Augenwinkel zu ihr hinüber. Er meinte, es erraten zu können, und erhielt schließlich Gewissheit, als sie sich geistesabwesend mit der Hand über den kahlen Schädel fuhr, auf dem schon ein zarter, hellbrauner Flaum wuchs. Behutsam legte er den Arm um Marie und zog sie an sich. Das würde das Flugzeug bestimmt schaffen.


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#2

RE: SGZ Nr. 9 - Auf dem Dach

in Die Geschichten der Woche 28.02.2021 16:18
von Bree • Federlibelle | 4.335 Beiträge | 17407 Punkte

Liebe @Sophie Reichardt

wie schön, dass du mal wieder mit einer Geschichte im Rennen bist. Und sie hat mir sehr gut gefallen, besonders der Schluss. Der trifft mich als Leser mitten ins Herz. Sehr gut aufgebaut, toll erzählt. Den Wechsel der Perspektive am Ende kann ich in diesem Fall gut nachvollziehen. Und die Story nur aus der Vater-Sicht zu erzählen, hätte bestimmt zu viel verraten. Insofern: Top, sehr gern gelesen!

LG
Bree


Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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#3

RE: SGZ Nr. 9 - Auf dem Dach

in Die Geschichten der Woche 28.02.2021 19:44
von Doro • Federlibelle | 2.350 Beiträge | 9189 Punkte

Wow, im vorletzten Satz bekommt der Text plötzlich eine sehr berührende Wendung, liebe @Sophie Reichardt.

Kurz hat mich der Perspektivwechsel verwirrt, aber @Bree hat recht, ohne ihn würde die Geschichte nicht so gut wirken.



Zitat von Sophie Reichardt im Beitrag #1
Papa musste lachen. Dieses raffinierte kleine Biest.
Eigentlich wechselt hier schon die Perspektive. Du könntest z.B. Einen Absatz machen und schreiben "Er musste lachen. ..." Ist aber nur ein Vorschlag.

LG
Doro


Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)
Sophie Reichardt hat sich bedankt!
zuletzt bearbeitet 28.02.2021 19:44 | nach oben springen

#4

RE: SGZ Nr. 9 - Auf dem Dach

in Die Geschichten der Woche 28.02.2021 21:24
von blauer Granit • Federlibelle | 691 Beiträge | 3476 Punkte

Jetzt habe ich Tränen in den Augen.


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#5

RE: SGZ Nr. 9 - Auf dem Dach

in Die Geschichten der Woche 28.02.2021 21:33
von -jek • Federlibelle | 711 Beiträge | 2145 Punkte

Der Perspektivwechsel stört mich nicht. Hier auf dem Dach gilt halt die Vogelperspektive einer so genannten "allwissenden Autorin". Packender Short-Story-Schluss, aber auch ohne die letzten Sätze eine runde Geschichte.


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Wenn du Schreibregeln beherrscht, ist das gut. Wenn sie dich beherrschen, ist das schlecht.
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#6

RE: SGZ Nr. 9 - Auf dem Dach

in Die Geschichten der Woche 08.03.2021 23:50
von Jana88 • Federlibelle | 564 Beiträge | 1302 Punkte

Oh eine richtig nächtliche romantische Geschichte. Was für ein lieber Papa 😊
Sehr gefühlvoll geschrieben


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Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende *Oscar Wilde
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#7

RE: SGZ Nr. 9 - Auf dem Dach

in Die Geschichten der Woche 09.03.2021 20:55
von Ranito • Forums-Schmetterling | 156 Beiträge | 419 Punkte

Bis zum Schluss hatte ich damit gerechnet, all dies sei "nur" ein Traum gewesen ...

Wunderschön erzählt! Deine Geschichte hat mich Zeile für Zeile in ihren Bann gezogen!


-- + —
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* DANKE * für jeden neuen Tag - jeden Moment - jede Geste - jede Reaktion, den/die ich erleben darf! Doch wem darf ich eigentlich * DANKE * sagen? Ich wüsste es so gerne ... Alles nur durch Zufall entstanden, wie es so ist? Nein, das kann nicht möglich sein! Gut, dass uns Menschen zumindest dieses Geheimnis bis heute verborgen bleibt. Der Glaube ist ganz sicher ein guter Lösungsansatz! Träumen wir weiter und hoffen auf ein gemeinsames Leben ... auch danach. Für hier und bis jetzt in jedem Fall erst einmal: * DANKE *
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#8

RE: SGZ Nr. 9 - Auf dem Dach

in Die Geschichten der Woche 13.03.2021 18:00
von Josy Burns • Federlibelle | 276 Beiträge | 1434 Punkte

Liebe @Sophie Reichardt

was für eine schöne Geschichte - die Stimmung gefällt mir, vor allem, dass der Vater seiner Tochter zutraut, dass sie die gefährliche Situation auf dem Dach beherrscht und sich darauf einlässt, den Sternenhimmel mit ihr gemeinsam zu genießen, anstatt ihr eine Standpauke zu halten, weil sie eine so waghalsige Kletteraktion unternommen hat.

Liebe Grüße,

Josy




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"Solange du nur daran denkst, was dir zustoßen könnte, erreichst du nie dein Ziel."
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