#1

SGZ Nr.8 - Am Kanal

in Die Geschichten der Woche 21.02.2021 11:38
von Josy Burns • Federlibelle | 276 Beiträge | 1434 Punkte

Wir liefen am Kanal.
Zwei große Füsse und zwei etwas kleinere klapperten in einem einträchtige Viertakt nebeneinander her. So, wie jeden Abend. So, wie immer auf dieser Strecke. Tocke-di-tocke-di-tock!’ - das waren Noellas abgetragene Damenstiefel - und tap-tap-und-tap - meine etwas ungeschickten Herrentreten. Seit beinahe sechs Monaten liefen wir nun jeden Abend die gleiche Runde um die Altstadt. Immerhin war das Spazierengehen erlaubt. Auch wenn wir uns dabei nicht weiter als fünf Kilometer von unserer Wohnung entfernen durften. Aber wer wollte denn ernsthaft auch fünf Kilometer weit zu Fuß gehen? Den würde ich ja gerne mal sehen, der heutzutage noch so fit war, dass er soweit laufen könnte. Zu unserer allabendlichen Zeit waren wir meist allein auf diesem Weg. Weiter vorne trafen wir manchmal den alten Wiedemann. Er schien aber nur alle drei Tage mal raus zu gehen.
„Was meinst du, wann werden wir wohl endlich mal wieder wo anders spazieren gehen können?“ Noella nuschelte ein wenig unter der Maske.
„Ach, warte es mal ab. Bald kommt der Frühling, dann wird bestimmt alles wieder besser.“
„Ich glaub’ das nicht mehr.“
Sie war stehen geblieben. Im Sog der Gewohnheit fiel es mir erst ein paar Takte später auf. Ich drehte mich um.
Noella stand an der Kaikante und hatte sich zum Kanal gedreht, auf dem noch ein paar letzte Eisschollen schwammen, und reckte ihr Gesicht der fahlen Abendsonne entgegen. Sie hatte die Maske herunter gezogen und die Augen geschlossen. Vor ihr ging es bestimmt zwei Meter tief hinunter zur Wasseroberfläche der schwerfälligen Trave. Ihre Schultern hoben sich unter der dicken Winterjacke als sie tief und lange einatmete. Dann spuckte Sie im hohen Bogen in den Kanal.
„So,“ sagte sie und ich sah wie sich ihr unnachahmliches diebische-Freude-Noella-Lachen über ihr Gesicht ausbreitete. „Das wollte ich schon lange mal wieder machen.“
Blahaa-hähähähä!
Ich sah mich erschrocken um. Jemand hatte unmittelbar neben uns gelacht. Niemand war zu sehen.
„Zieh die Maske auf!“ zischte ich Noella zu. Jemand musste uns beobachtet haben. Die Strafen für das Nichtbeachtet der Maskenpflicht waren inzwischen empfindlich.
Noella hatte es auch gehört. Erschrocken sah sie mich an. Dann zog sie hastig die Maske wieder hoch.
Auch wenn meine kleine Hobby-Rebellin sich hin und wieder mal eine winzige Freiheit gönnte, so hielt sie sich doch im großen und ganzen an die Spielregeln, weil sie wusste, dass sie notwendig und richtig waren.
Mit einem Schritt, bei dem ich mich noch wunderte, wie eine so zierliche Person, wie Noella in überhaupt ausführen konnte, stand sie neben mir und hakte sich unter. Wir durften das, denn wir wohnten ja zusammen.
„Komm’ schnell, wir gehen weiter.“
Sie setzte zum gehen an und vor lauter Hektik trat sie einen kleine Stein ins Wasser.
Blahahaha -hähähä- hahaha, das hörte sich eher wütend an.
Dann flatterte und platschte es. Bewegung kam ins Wasser.
Blahahahaha!
Federn stieben, Wasser wurde getreten. Unter der Kaimauer musste ein ganzer Schwarm Gänsesäger Quartier bezogen haben. Und die waren anscheinend verständlicherweise nicht besonders begeistert, wenn man ihnen auf den Kopf spuckte.
Noella boxte mich in die Seite. Dann mussten wir beide lachen. Irgendwann liefen uns die Tränen über die Wagen und bildeten eine fiese Melange aus Filterpapier, kalter Winterhaut und Lachmuskelzuckungen. Schließlich bekam ich keine Luft mehr, beugte mich nach vorn und stützte mich auf den Knien ab. Auch Noella war neben mir in die Hocke gegangen.
Die Gänsesäger hatten sich inzwischen in die Mitte der Trave geflüchtet und beäugten uns von dort aus kritisch.
„Oh man“, Noella stöhnte. Das was ich von ihrem Gesicht sehen konnte, war krebsrot angelaufen. Ihre Augen blitzten voller Schabernack und Lebensfreude. „Oh man, ich glaub’ so hab’ ich echt lange nicht mehr gelacht.“
Ich ließ mich auf den kalten Boden sinken. Musste einfach einen Moment zur Ruhe kommen.
„Ich auch nicht“, presste ich hervor.
Und dann sah ich sie neben mir liegen. Eine kleine Feder. Weich und flaumig als wäre sie gerade eben hier genau für uns abgelegt worden. Ob sie von den Kollegen da draussen in der Flussmitte stammte? Oder ob sie schon länger hier lag? Egal.
„Schau mal - ich hab’ ein Geschenk für Dich.“ Vorsichtig hob ich die Feder auf und reichte sie Noella, die sich inzwischen neben mir auf den kalten Boden gesetzt hatte.
Vorsichtig nahm sie die Feder und drehte sie behutsam zwischen den Fingern hin und her. „Danke“, sagte sie und dann wurde sie nachdenklich. Eine ganze Weile drehte sie die Feder und sah immer wieder zwischen dem feinen kleinen Geschenk und den Wasservögeln hin und her, die inzwischen offenbar beschlossen hatten, dass sie ausnahmsweise auch dort draußen die Köpfe unter’s Gefieder stecken könnten.
Es wurde schon langsam unangenehm kalt, als es so schien, als wäre sie zu einem Schluss gekommen.
„Wir halten das durch“, sagte sie. „Wir machen es einfach so, wie die da draußen.“ Sie nickte zu den Gänsesägern. „Die machen immer das, was für den jeweiligen Tag angebracht ist - wenn der Tag ein Wintertag ist, dann dümpeln sie hier auf dem Fluss und wenn der Tag ein Sommertag ist, dann fliegen sie raus zur Wiek und bauen ihre Nester und freuen sich am Leben. Wann welcher Tag sein wird wissen sie nicht, aber wenn ein Sommertag ist, dann freuen sie sich und an den Wintertagen hoffen sie eben einfach, dass ihnen niemand auf den Kopf spuckt.“
Mit einer feierlichen Geste steckte sie sich die Entenfeder an die Mütze. „So, und das ist, damit ich mich da auch noch dran erinnere.“
Sie sprang auf und zog mich auf die Füße.
„Und jetzt gehen wir unsere Runde zu Ende und ab nach Hause - und weißt du was: wir freuen uns einfach dran, dass wir diese schöne Runde haben.“ Sie drehte sich um und - tocke-di-tocke-di-tock - marschierte los.
Ob sie wohl ahnte, wie sehr ich sie liebte und dass ich wenn es sein musste jeden Winter unseres gesamten Lebens mit ihr hier am Kanal bei den Gänsesägern verbringen würde?




"Geschichten sind in Sprache gegossene Bilder"
Nossrat Peseschkian (1933-2010)

"Solange du nur daran denkst, was dir zustoßen könnte, erreichst du nie dein Ziel."
Hans Bemmann (1922-2003), Stein und Flöte
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#2

RE: SGZ Nr.8 - Am Kanal

in Die Geschichten der Woche 21.02.2021 12:02
von Bree • Federlibelle | 4.335 Beiträge | 17407 Punkte

Eine sehr schöne, zuversichtlich stimmende Geschichte, liebe @Josy Burns

Du hast die Stimmung wunderbar eingefangen, und trotz der Situation das böse C-Wort nicht einmal benutzt. Nötig war es auch nicht. Mir gefällt die positive Botschaft in deiner Geschichte. Mach einfach das beste aus dem, was du hast.
Noella finde ich unheimlich sympathisch. Eine Figur, die es verdient, noch häufiger in Erscheinung zu treten.

Sehr gern gelesen!

LG
Bree


Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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Alles über meine Bücher & mich findet ihr auf meiner Website: www.brittabendixen.de
Einen eigenen Youtube-Kanal habe ich auch. Dort lese ich einige meine Geschichten.
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#3

RE: SGZ Nr.8 - Am Kanal

in Die Geschichten der Woche 21.02.2021 12:34
von -jek • Federlibelle | 711 Beiträge | 2145 Punkte

Meines Erinnerns lese ich hier zum ersten Mal eine Geschichte, die die Atmosphäre während der Seuche treffend einfängt. Und das noch im Stil einer Meisterin erzählt, bildhaft und atmosphärisch dicht! Da machst du deinem virtuellen Mentor Peseschkian alle Ehre - "in Sprache gegossene Bilder".
Für alle, die Peseschkian noch nicht kennen: Ein großartiger Erzähler und Therapeut. https://de.wikipedia.org/wiki/Nossrat_Peseschkian


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Wenn du Schreibregeln beherrscht, ist das gut. Wenn sie dich beherrschen, ist das schlecht.
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#4

RE: SGZ Nr.8 - Am Kanal

in Die Geschichten der Woche 21.02.2021 19:09
von Doro • Federlibelle | 2.350 Beiträge | 9189 Punkte

Liebe @Josy Burns ,

auch mir gefällt deine Geschichte sehr gut.

Eigentlich eine Art Liebesgeschichte, aber überhaupt nicht kitschig und trotz Corona (auch, wenn das Wort kein einziges Mal fällt) einfach schön.

Zitat von Josy Burns im Beitrag #1
und an den Wintertagen hoffen sie eben einfach, dass ihnen niemand auf den Kopf spuckt
Da musste ich schmunzeln.

Und da auch:

[quote="Josy Burns"|p5992]Aber wer wollte denn ernsthaft auch fünf Kilometer weit zu Fuß gehen?

Es gibt tatsächlich Menschen, denen macht das Spaß.

Gern gelesen.

LG Doro


Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)
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#5

RE: SGZ Nr.8 - Am Kanal

in Die Geschichten der Woche 21.02.2021 19:09
von Doro • Federlibelle | 2.350 Beiträge | 9189 Punkte

Liebe @Josy Burns ,

auch mir gefällt deine Geschichte sehr gut.

Eigentlich eine Art Liebesgeschichte, aber überhaupt nicht kitschig und trotz Corona (auch, wenn das Wort kein einziges Mal fällt) einfach schön.

Zitat von Josy Burns im Beitrag #1
und an den Wintertagen hoffen sie eben einfach, dass ihnen niemand auf den Kopf spuckt
Da musste ich schmunzeln.

Und da auch:

[quote="Josy Burns"|p5992]Aber wer wollte denn ernsthaft auch fünf Kilometer weit zu Fuß gehen?

Es gibt tatsächlich Menschen, denen macht das Spaß.

Sehr gern gelesen.

LG Doro


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#6

RE: SGZ Nr.8 - Am Kanal

in Die Geschichten der Woche 25.02.2021 16:24
von Gini • Federlibelle | 1.797 Beiträge | 3677 Punkte

@Josy Burns eine schöne und melancholische Geschichte. Du beschreibst die Stimmung sehr bildlich.
Als würde man selber da am Kanal spazieren gehen. Wunderbar, wie positiv Noella ist.

Zitat von Josy Burns im Beitrag #1
Irgendwann liefen uns die Tränen über die Wagen und bildeten eine fiese Melange aus Filterpapier, kalter Winterhaut und Lachmuskelzuckungen.

Diesen Satz finde ich genial.
Und trotzdem, hoffentlich ist das alles bald vorbei.


Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.

Wilhelm Busch (1832-1908)
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#7

RE: SGZ Nr.8 - Am Kanal

in Die Geschichten der Woche 28.02.2021 22:11
von Jana88 • Federlibelle | 564 Beiträge | 1302 Punkte

Liebe @Josy Burns

so, den Punkt bekommst du eindeutig von mir.
Zum einen weil du eine wunderbare Stimmung einfängst. So hoffnungsvoll, dass ich es richtig fühlen kann.
Zum anderen, weil du mit mir "Meine Strecke" gelaufen bist.
Wie oft bin ich schon um die Altstadtinsel gelaufen. Und je nachdem, wie lange ich die Strecke mal nicht gelaufen war, gab es am nächsten Tag einen kräftigen Muskelkater.
Mit Kinderwagen hielt sich der Kater in Grenzen, denn da war ich ja täglich solche Strecken unterwegs. Ich liebe die Wege am Wasser, bin sehr dankbar für 10 tolle Jahre in Lübeck. Obwohl ich die kleine Wohnung gegen ein Häuschen im Grünen getauscht habe, vermisse ich die Stadt sehr und suche mir absichtlich meine Arzt und Werkstatt-Termine immer da, um mal wieder hinfahren zu können. So bin ich etliche Male im Jahr da und freue mich jedes Mal.

Wenn Corona vorbei ist (haha, guter Witz, oder?) dann müssen wir mal einen Kaffee trinken. Hatten wir glaube ich schon mal vor und nie geschafft.


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Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende *Oscar Wilde
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#8

RE: SGZ Nr.8 - Am Kanal

in Die Geschichten der Woche 01.03.2021 07:11
von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.151 Beiträge | 9415 Punkte

Liebe @Josy,
mit dieser Geschichte triffst du voll die die derzeitige - in mir, in uns und ich glaube, in vielen herrschende - Stimmung, der Angst, Unsicherheit, des "jetzt reicht es aber", der Unsicherheit. Ob der Frühling wirklich alles besser macht? Ein bisschen, hoffe ich.
Sich die Natur zum Vorbild nehmen, ist wirklich eine gute Idee, sich wenig beklagen und auf die Gegebenheiten einstellen. Geduld haben.
Wenn man nicht auch andauernd das Gefühl hätte, dass so manches hätte anders laufen können. Aber wahrscheinlich lohnt es sich nicht, darüber Ballzuviel nachzudenken.
Auf jeden Fall eine sehr hoffnungsvolle Geschichte, in der du die Feder sehr symbolisch eingebracht hast!
Liebe Grüße
Carlotte Lila


https://www.leseflamme.jimdofree.com

Unsere größte Schwäche liegt im Aufgeben. Der sicherste Weg zum Erfolg ist immer, es noch einmal zu versuchen.
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#9

RE: SGZ Nr.8 - Am Kanal

in Die Geschichten der Woche 05.03.2021 17:25
von Josy Burns • Federlibelle | 276 Beiträge | 1434 Punkte

Ihr Lieben @Bree @-jek @Doro @Gini @Jana88 @Carlotta Lila

ich freue mich, dass euch meine Geschichte so gut gefällt. Irgendwie ist es bei diesen SGZ-Übungen immer so: entweder zündet das Wort sofort, dann kommt was dabei raus, oder ich steh 'ne Stunde auf dem Schlauch. Diesmal ist es gefluppt :-)

@-jek Dankeschön für das große Lob! Ich werde ganz rot und verlegen, wenn jemand sagt, dass ich es geschafft habe, Peseschkian alle Ehre zu machen. Und: wie schön, dass Peseschkian hier auch sonst bekannt ist!

@Jana88 : Hihi, ich freu' mich, dass du meinen Weg erkannt hast :-) , ehrlich gesagt: Ich bin so froh, in diesen Zeiten ausgerechnet hier am Kanal in dieser schönen Stadt gelandet zu sein. Und: Oh jaaaaaa! Wenn es endlich wieder geht, müssen wir endlich den Kaffee am Kanal nachholen. Das ist schon viel zu lange her, dass wir uns das eigentlich vorgenommen und nie geschafft haben.

Liebe Grüße und danke euch für's Lesen,

Josy




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