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SGZ 2/2021: Magda oder ein ganz normaler Wintertag
in Die Geschichten der Woche 10.01.2021 12:06von Doro • Federlibelle | 2.416 Beiträge | 9470 Punkte
Magda trat vors Haus, schloss die Wohnungstür ab und spannte den Schirm auf. Was für ein grauer Tag. Der Wind wirbelte die Schneeflocken wild herum. Die Räumfahrzeuge kamen nicht mehr hinterher. Man sah kaum die Hand vor Augen. Andererseits - ein ganz normaler Wintertag. Eigentlich ein schöner Jahresbeginn, wenn sie nicht zum Einkaufen müsste. Magda hängte sich den Korb in die Armbeuge und stiefelte los. Gut, dass sie sich letztes Jahr wasserdichte Stiefel gekauft hatte. Nicht schick, aber sie erfüllten ihren Zweck.
„Ja, mei“, ertönte von rechts eine Stimme. „Die Frau Bichlmeier. San Sie a unterwegs bei dem Sauwetter, Frau Nachbarin?“
„Frau Hinterseher“, sagte Magda und konnte gerad noch einen Seufzer unterdrücken, „Eana a einen guten Morgen.“
„Mei, die Kälte“, jammerte Frau Hinterseher und fegte mit dem Besen den Platz vor der Haustür frei, „die is Gift für meine oidn Knoch’n.“
„Mia werden alle älter.“ Magda hielt den Schirm schräg, um den Wind abzuhalten, ihr die Schneeflocken ins Gesicht zu blasen. „An schönen Tag noch.“
„Alles in Ordnung bei Eana?“, wollte die Nachbarin wissen, Magdas Verabschiedung ignorierend.
„Passt!“
„Und? Mit dem Enkel. Wie hoaßt der glei?“ Frau Hinterseher hob den Finger. „Nix sagn. I kemm selba drauf.“
Magda bewegte die Zehen auf und ab. Langsam wurde es kalt. Sie öffnete den Mund, da kam ihr die Nachbarin zuvor: „Stephan. So hoaßt der. Oder?“
„Steffen“, verbesserte Magda.
„Is ja fast desselbe. Ausserdem san mia in Bayern und da gibt’s koan Steffen. Ois in Ordnung mit dem?“
Magda nickte, ein Lächeln umspielte ihren Mund. „Der wartet drauf, dass er freigesprochen wird. Mia san alle furchtbar stolz auf den Bub.“
„Wega am Freispruch?“ Die Nachbarin legte beide Hände auf das Stielende und stützte das Kinn darauf. „Des war früher anders.“
„Er hat sogar verkürzt.“
„Aha! Was macht der glei nochmal?“
„Schreiner. Er ist Azubi.“
„Azubi“, wiederholte Frau Hinterseher. „Bei uns hieß des noch Lehrling. Aba schee, wia Ihre Familie zammhält.“
„Mia wird saukalt“, sagte Magda. „I muaß weiter.“ So schnell es der verschneite Weg zuließ, eilte sie davon. Sie erledigte ihre Einkäufe. Viel brauchten sie eh nicht. Als sie auf dem Heimweg war, hörte es zu schneien auf. Sie klappte den Schirm zusammen und beschloss einen kleinen Umweg zu laufen. In der Nähe der großen Straße war es matschig, aber kaum bog sie in eine Seitenstraße ein, wurde aus der grauen Pampe wieder eine weiße Pracht. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Die kleine Kirche hatte eine weiße Haube. Bäume standen rechts und links des Weges an der Friedhofsmauer entlang. Die Schneelast bog die Äste nach unten. Fast wie ein Tunnel. Einzelne Sonnenstrahlen quetschten sich durch die Wolkendecke. Der Schnee funkelte im Sonnenlicht. Magda seufzte. Ein wirkliches Winterwunderland.
Gemächlich spazierte sie nach Hause. So ein Spaziergang wirkte bei ihr entspannender als eine Stunde Yoga. Da war sie meistens erfolglos damit beschäftigt, zu versuchen, die Bewegungen der Yogalehrerin zu imitieren.
„Des war aba a langer Einkauf!“
Schwupps – war die Entspannung dahin. Magda drehte sich um. Frau Hinterseher leerte soeben den Briefkasten. Sie schwenkte einen Packen Briefe und die Tageszeitung. „Die Post war da.“
Magda nickte. Hoffte, ohne weitere Unterhaltung ins Haus gelangen zu können. Da die Nachbarin begann, die Zeitung zu lesen, schien die Chance dafür ganz gut.
„Mei“, sagte Frau Hinterseher und kam Magda entgegen, „des sann ja viel mehr.“
„Wie bitte?“
„Da steht’s!“ Frau Hinterseher hielt ihr die Zeitung unter die Nase. „20 Azubis freigesprochen. Is der Ihre a dabei?“ Sie rückte Magda noch näher auf die Pelle. „Derf i fragen, was der angestellt hat?“
Magda sah sie konsterniert an. „Angestellt?“
„Na, der is doch in Stadlheim“, erklärte Frau Hinterseher. „Oder in welchem Gefängnis hockt der?“
„Wie kommen’S da drauf, dass der Steffen im Gefängnis ist?“
„Des ham Sie mia doch selbst erzählt.“
Magda starrte die Nachbarin eine Weile an, dann brach sie in schallendes Gelächter aus. „Freisprechen“, gluckste sie, „bedeutet bei Azubis so viel wie eine Prüfung bestehen. Sie sind dann Gesellen und werden dementsprechend bezahlt.“
Frau Hintersehers Kopf glich dem einer überreifen Tomate. Wortlos drehte sie sich um und marschierte ins Haus.
Magda lachte noch immer als sie ihre Haustür aufschloss. Wie schnell doch aus einem grauen Tag ein wunderschöner Wintertag werden konnte.
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)
RE: SGZ 2/2021: Magda oder ein ganz normaler Wintertag
in Die Geschichten der Woche 10.01.2021 12:34von Bree • Federlibelle | 4.476 Beiträge | 18164 Punkte
Liebe @Doro
also von der Bedeutung des Wortes habe ich ebenso wenig Kenntnis gehabt wie Frau Hinterseher. Ich hab mich auch die ganze Zeit gefragt, was der Steffen angestellt hat.
Du hast es geschafft, in der einen Stunde eine runde, humorvolle Geschichte zu schreiben, die wieder einmal mit dem bajuwarischen Dialekt verzaubert. Sehr gern gelesen!
Wie wäre es, mal ein Buch mit deinen bayerischen Kurzgeschichten herauszugeben? Titel: "Weißblaue Schmunzelstorys" oder so ähnlich. Die wären in deiner Heimat - und bestimmt auch anderswo - ein Renner!
LG
Bree
Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)
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RE: SGZ 2/2021: Magda oder ein ganz normaler Wintertag
in Die Geschichten der Woche 10.01.2021 13:32von Sinjane • Federlibelle | 492 Beiträge | 2770 Punkte
@Doro , ja, das kommt davon, wenn man keine Ahnung hat aber tratschen muss. Ich kannte diese Bedeutung von "freisprechen" auch nicht und finde deine Umsetzung sehr gelungen. Winteridyll und nervige Nachbarn, da liegen Freud und Leid nah beieinander. Wieder mal sehr gern gelesen
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Um erfolgreich zu schreiben, lies viel und schreibe viel (frei nach: Stephen King) Und trink viel Kaffee (ergänzt durch: Sinjane)
RE: SGZ 2/2021: Magda oder ein ganz normaler Wintertag
in Die Geschichten der Woche 10.01.2021 18:13von Doro • Federlibelle | 2.416 Beiträge | 9470 Punkte
Zitat von Bree im Beitrag #2Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen, liebe @Bree . Danke für den Hinweis. Ich behalte es im Hinterkopf.
Wie wäre es, mal ein Buch mit deinen bayerischen Kurzgeschichten herauszugeben?
(Auch dein Titel würde mir gefallen.)
@Sinjane , @Bree ,
ich kann die zweite Bedeutung von "freisprechen" auch nicht. Die Begriffe, die mir spontan zu "freisprechen" eingefallen sind, haben mich heute nicht wirklich inspiriert. Also habe ich Mister Google befragt. Und da kommt als erstes der Link zum Duden mit den beiden unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten.
Wir wohnen in einer Reihenhausreihe - ungefähr in der Mitte. Da sind nervige Nachbarn inklusive. Wobei es zurzeit enorm nervt. Die Nachbarstochter studiert Musik. Ihre Instrumente sind Querflöte und Klavier. Sie hat ein E-Piano mit Kopfhörern, das hört man meistens nix. Aber das Querflöteüben ist total nervig. Würde sie schöne Stücke üben, aber nein, oft stundenlang nur 2 oder 3 Töne. Und leider sind die Häuser hier sehr hellhörig.
Zu allem Überfluss hat sie auch noch seit einiger Zeit einen Freund, der momentan auch bei ihnen wohnt. Und der spielt Trompete. Täglich mehrmals. Einfach nur ätzend. Ich hoffe, der Coronaschmarrn ist bald vorbei und der geht wieder an seinen Studienort zurück.
LG
Doro
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RE: SGZ 2/2021: Magda oder ein ganz normaler Wintertag
in Die Geschichten der Woche 10.01.2021 18:33von Gini • Federlibelle | 1.809 Beiträge | 3714 Punkte
@Doro ich kannte den Ausdruck tatsächlich. Wenn Handwerker "freigesprochen" werden,
sind sie Gesellen. Eigentlich ein schöner Brauch. Deine Geschichte hat mir gut gefallen.
Diese bayerisch kann ich langsam auch verstehen.
Ja, Nachbarn können nervig sein. Du hast die Nervtante gut rübergebracht.
Zum Glück haben wir solche Nachbarn nicht in unserer Reihe.
Außer wenn unser Nachbar gerne Abends oder am Sonntag den Bohrer schwingt.
Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.
Wilhelm Busch (1832-1908)
RE: SGZ 2/2021: Magda oder ein ganz normaler Wintertag
in Die Geschichten der Woche 10.01.2021 20:01von Sinjane • Federlibelle | 492 Beiträge | 2770 Punkte
@Doro Flöte und Trompete - das ist echt hart!
Meine Nachbarinnen haben mal fast den Tierschutz gerufen, weil mein Kater viel draußen ist und sie dachten, das "arme Tier" müsste sich sein Futter selbst jagen. Sie selber haben überfettete Katzen, die wahrscheinlich mit Schokolade vollgestopft werden. Sie haben meinen Kater auch gefüttert, und ich habe dann überall herumerzählt, er sei Allergiker und würde STERBEN, wenn er nicht sein Spezialfutter bekommt. Dann hat es aufgehört.
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RE: SGZ 2/2021: Magda oder ein ganz normaler Wintertag
in Die Geschichten der Woche 10.01.2021 21:55von blauer Granit • Federlibelle | 694 Beiträge | 3568 Punkte
RE: SGZ 2/2021: Magda oder ein ganz normaler Wintertag
in Die Geschichten der Woche 10.01.2021 22:41von Doro • Federlibelle | 2.416 Beiträge | 9470 Punkte
Zitat von blauer Granit im Beitrag #7Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Verstehe ich nicht.
dass sie nicht möchte dass ich in der Waschküche Wäschewasche weil ich studiert habe.
Zitat von blauer Granit im Beitrag #7Das Lob freut mich sehr. Danke.
Du hast eine super humorvolle Geschichte
Zitat von blauer Granit im Beitrag #7Zuerst wollte ich die Geschichte aus Sicht des Enkels erzählen, aber ich fand es so auch besser.
Ich fand es schön, dass die Geschichte aus der Perspektive einer anderen alten Dame erzählt wird.
LG Doro
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RE: SGZ 2/2021: Magda oder ein ganz normaler Wintertag
in Die Geschichten der Woche 11.01.2021 03:43von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.245 Beiträge | 9969 Punkte
Liebe @Doro, ich kannte das mit dem Freisprechen nicht, hab's mir aber gleich gedacht! Ich mag dein Dialoge im Dialekt in den Kurzgeschichten , auch sehr, das sind richtige Mentalitätsstudien! Liebe Grüsse, Carlotta Lila(-:
https://www.leseflamme.jimdofree.com
Unsere größte Schwäche liegt im Aufgeben. Der sicherste Weg zum Erfolg ist immer, es noch einmal zu versuchen.
Thomas Alva Edison
RE: SGZ 2/2021: Magda oder ein ganz normaler Wintertag
in Die Geschichten der Woche 11.01.2021 07:54von blauer Granit • Federlibelle | 694 Beiträge | 3568 Punkte
Hallo Doro!
Was das eine mit dem Anderen zu tun hat versteht niemand. Aber es gibt in jedem Mehrparteienhaus ein oder zwei verrückte Pensionisten.
Meine beste Freundin hatte eine Nachbarin die stand nackt am Fenster und schimpfte weil alle sie beobachteten.
RE: SGZ 2/2021: Magda oder ein ganz normaler Wintertag
in Die Geschichten der Woche 11.01.2021 10:02von Bree • Federlibelle | 4.476 Beiträge | 18164 Punkte
Liebe @blauer Granit
nach dem, was du von deinen Nachbarn erzählst, hatte ich sofort eine Idee: Schreib das auf! Vielleicht gelingt es dir, daraus etwas herrlich Witziges zu machen (ohne Namen zu nennen, natürlich). Aber solche Originale sind einfach Gold wert! Manche Sachen kann man sich echt nicht ausdenken, die muss man erleben ...
LG
Bree
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RE: SGZ 2/2021: Magda oder ein ganz normaler Wintertag
in Die Geschichten der Woche 11.01.2021 22:45von Jana88 • Federlibelle | 568 Beiträge | 1308 Punkte
Wie gut, dass ich mal einen Freund hatte, der Fliesenleger-Azubi war :-D
So kam ich direkt hinter den Wortwitz. Darauf muss man erstmal kommen, das miteinander zu verbinden.
Tolle Geschichte, ein super Winter-Lacher.
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Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende *Oscar Wilde
RE: SGZ 2/2021: Magda oder ein ganz normaler Wintertag
in Die Geschichten der Woche 12.01.2021 12:48von angirobs (gelöscht)
RE: SGZ 2/2021: Magda oder ein ganz normaler Wintertag
in Die Geschichten der Woche 12.01.2021 19:18von Yggdrasil • Federlibelle | 1.231 Beiträge | 3155 Punkte
@blauer Granit
Meine beste Freundin hatte eine Nachbarin die stand nackt am Fenster und schimpfte weil alle sie beobachteten.
Recht hat die gute Dame - wenn alle Beobachter unten extra auf eine Trittleiter klettern müssen, um zu spannen!
@Doro : ohne viele Worte: Sehr humorvolle Dialektgeschichte.
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