#1

SGZ 28: Der Besserwisser

in Die Geschichten der Woche 15.07.2023 20:52
von Doro • Federlibelle | 2.350 Beiträge | 9189 Punkte

Der Besserwisser

„Und hier“, leierte der Führer, Mitte zwanzig, schätze Quirin, lustlos herunter, „ist der Cappenberger Kopf. Es handelt sich um eine Bronzebüste aus dem Jahr elfhundertachtundfünfzig.“

Quirin zuckte zusammen. Die Ungenauigkeiten der Informationen verursachte ihm fast körperliche Schmerzen. Warum führt jemand Besucher durch die Stiftskirche, wenn er sogar keine Lust hatte? Des Geldes wegen nahm er an, auch, wenn der Job kaum besonders gut bezahlt werden dürfte. Plötzlich hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er über jemanden urteilte, dessen Geschichte er nicht kannte. Seine Hilda nahm auch an, dass er just in diesem Moment im Historischen Museum in seinem Kellerkabuff saß und irgendwelche Exponate archivierte. Aber den Job machte jetzt eine junge Frau, die die Digitalisierung auf Vordermann bringen sollte. Als könnte Hilda Gedanken lesen, klingelte sein Handy. „Hilda, ich kann jetzt nicht“, flüsterte er.
„Ich versteh dich fast nicht. Bist du krank?“
„Alles in Ordnung“, versicherte er. „Ich melde mich später.“ Feigling. Sie hatte einen sechsten Sinn. Auf Dauer würde er sie nicht anschwindeln können.
Er räusperte sich vernehmlich und hob die Hand ein Stück.
Der Student hob die Augenbrauen. „Fragen?“
„Eher ein paar Anmerkungen“, sagte Quirin.
„Und das ist wichtig, weil?“ Der Student sah auf seine Uhr. „Ist alles genau getaktet.“
„Dann sollten Sie sich vorher besser informieren.“
„Was stimmt nicht?“
Der Rest der Besuchergruppe wendete die Köpfe wie bei einem Tennisspiel.
Der Student verschränkte die Arme vor der Brust. „Kann man alles auf Wikipedia nachlesen. Sagt Ihnen aber wahrscheinlich nix. Kann ich verstehen, mein Opa denkt bei Wikipedia auch eher so ein Teil, mit dem man die Fußnägel schneidet.“
Einige Leute kicherten, der Student grinste.
„Nagelknipser“, sagte Quirin.
„Hä?“
„Das Teil zum Fußnägel schneiden heißt Nagelknipser.“
Der junge Mann brummte etwas, das wie „Besserwisser“ klang. Quirin hätte fast gelacht, denn seine Hilda nannte ihn auch oft so.
„Ich wette“, sagte der Student laut, „Sie sind Lehrer.“
Wissendes Grinsen bei den übrigen Besuchern.
Quirin schüttelte den Kopf. „Falsch geraten. Und selbstverständlich weiß ich, was Wikipedia ist. Wissen Sie eigentlich, woher das Wort stammt?“
Der Student rollte mit den Augen und zog sein Handy aus der Hosentasche. „Kann man googlen.“
Quirin trat ein paar Schritte nach vorn, respektvoll bildeten die anderen eine Gasse, und nun stand er neben dem jungen Mann. „Noch schneller geht’s, wenn man das im Kopf hat. ‚Wiki‘ ist hawaiisch für schnell und ‚pedia‘ kommt von ‚Encyclopedia‘. Enzyklopädie auf Deutsch. Der Gedanke war eine Online-Enzyklopädie, die für jedermann zugänglich ist. Leider wird nicht überprüft, was dort steht.“
„Was war jetzt falsch, was ich gesagt hab?“
„Die Büste zeigt keineswegs das Konterfei Kaiser Barbarossas und ist auch nicht aus Bronze.“
Der junge Mann machte eine Geste, als überlasse er ihm großzügigerweise seinen Platz. „Wenn Sie alles besser wissen, bitteschön.“
Quirin sah in die Gesichter, las Neugier. Zumindest hatte er jetzt die ungeteilte Aufmerksamkeit. „Wie bereits“, sagte er, „ist das nicht der Kopf des Kaisers, sondern der von Johannes dem Täufer. Auftraggeber war Otto von Cappenberg, von elfundertsechsundfünzig Probst des Klosters, und vor allem Taufpate von Kaiser Barbarossa. Wann genau die Büste in Auftrag gegeben wurde, weiß man nicht, aber man geht davon aus, dass es vor elfhundertachtundfünfzig gewesen ist. Es handelt sich um ein sogenanntes Kopfreliquiar.“ Er machte eine Handbewegung. „Wenn Sie mir bitte zum Grab von Gottfried von Cappenberg folgen würden?“
Vor der Grabplatte des Bruders von Otto, dem Auftraggeber, deutete er auf die Ritterfigur. „Sehen Sie den kreuzförmigen Sockel in der Hand? Die Büste passt genauestens darauf. Nach neuesten Erkenntnissen ist die Büste nicht aus Bronze, sondern aus Messing, anschließend vergoldet.“ Er machte eine kurze Pause, wandte sich um und marschierte auf den Altar der Stiftskirche zu. „Für die meisten ist das romanische Kruzifix über dem Altar das Herzstück der Ausstellung im Kloster von Cappenberg. Für mich ist es die Büste, da man dort die Geschichte ablesen kann. Nicht nur die des Klosters, auch im historischen Sinn.“ Er lächelte. „Ich könnte Ihnen noch eine halbe Stunde einen Vortrag halten, aber das würde Sie sicher langweilen. Darum bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit und gebe zurück an unseren jungen Führer.“ Alle sahen sich nach dem jungen Mann um. Doch der war nirgends zu sehen. Quirin zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich googelt er lieber nachher alles.“ Die Besucher lachten.
Quirin überlegte. „Zweitausendundzwanzig hat Graf von Kanitz, der Besitzer des Schlosses, zum ersten Mal eigenen Wein hergestellt. Den kann man im Schlosscafé genießen. Oder Sie machen einen Spaziergang zum Wasserturm. Auch die wechselnden Gemäldeausstellungen kann ich Ihnen empfehlen.“
Die Besucher bedankten sich und – Quirin konnte es kaum glauben – gaben Trinkgeld. Unschlüssig, was er mit dem Geld machen sollte, stand er in der Kirche und blickte in Richtung der hohen Fenster der Apsis. Er hatte noch ein paar Jahre bis zur Rente. Lang könnten sie nicht vom Ersparten leben. Doch nein, es kam ihm falsch vor. Entschlossen drehte er sich um und warf die Münzen und sogar einen Fünf-Euro-Schein in den Opferstock neben dem Eingang. Und jetzt würde er Hilda anrufen und beichten, dass er arbeitslos war. Er griff in die Tasche, tastete nach dem Handy und erschrak, als er eine Bewegung in seinem Rücken spürte. Er drehte sich um und sah in das Gesicht eines älteren Mannes. „Ja, bitte?“ Automatisch machte er einen Schritt zurück.
Der Mann hob die Arme. „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich sie erschreckt habe. Ich habe Ihre Ausführungen mitangehört. Teilweise zumindest. Als Schlossverwalter habe ich ein Auge auf die Angestellten und als der Mike über den Hof gelaufen ist, wollte ich nachsehen. Sie hätten nicht zufällig Interessen, die Führungen zu übernehmen?“
Quirin starrte ihn an. „Das ist …“
„Wenn es an der Bezahlung liegt“, beeilte sich der Verwalter zu erläutern, „das liegt in meinem Ermessen. Auf alle Fälle Mindestlohn, aber selbstverständlich wäre das verhandelbar. Ich wäre auch zufrieden, wenn Sie nur am Wochenende arbeiten könnten.“ Er seufzte. „Gutes Personal ist leider so selten wie ein Sechser im Lotto. Na ja, fast. Schlagen Sie ein.
„In dem Fall“, Quirin grinste, zog die Hand aus der Jackentasche, die immer noch das Handy umklammert hatte, „könnten wir uns bestimmt einigen.“


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#2

RE: SGZ 28: Der Besserwisser

in Die Geschichten der Woche 15.07.2023 21:56
von Bree • Federlibelle | 4.337 Beiträge | 17414 Punkte

Liebe @Doro

dass Quirin einen Job angeboten bekommt, nachdem er so gekonnt die Führung übernahm, habe ich für ihn gehofft.
Ich nehme an, diese ganzen Infos aus der Story hast du bei Google und Wikipedia gefunden ... ?

Mich erinnerte deine Geschichte an neulich, da habe ich mich nämlich mit Judith Berger (Binki) aus dem Rindlerwahnforum hier in Flensburg getroffen, und ihr und ihren Mann einiges von der Stadt gezeigt. Dabei kam ich mir auch ein bisschen wie eine Stadtführerin vor. Hat aber Spaß gemacht. Es war ein wenig wie bei der Führung von Finn aus "Der Tote im Camper", als er den anderen die Sehenswürdigkeiten gezeigt hat.

Wie auch immer, ich habe deine Geschichte gern gelesen. Sie ist interessant und wie immer unterhaltsam geschrieben. Ich hätte nur die Jahreszahlen in Ziffern geschrieben, aber das kann man glaube ich machen, wie man möchte.

LG
Bree


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#3

RE: SGZ 28: Der Besserwisser

in Die Geschichten der Woche 16.07.2023 08:04
von Doro • Federlibelle | 2.350 Beiträge | 9189 Punkte

Zitat von Bree im Beitrag #2
Ich nehme an, diese ganzen Infos aus der Story hast du bei Google und Wikipedia gefunden ... ?
Nicht ganz @Bree. Ich habe mal eine Doku über das Kloster Cappenberg gesehen. Da mir beim Wort "Messing" zunächst nix eingefallen ist, hab ich es gegoogelt und bin auf eine Info gestoßen über die Bronzebüste von Kaiser Barbarossa, die erstens aus Messing und zweitens nicht den Kaiser darstellt, sondern Johannes. Das fand ich interessant und der Anfang meiner Geschichte war plötzlich da. Die Jahreszahlen hab ich alle nachlesen müssen, so was merke ich mir nur ganz schlecht.


Zitat von Bree im Beitrag #2
Ich hätte nur die Jahreszahlen in Ziffern geschrieben, aber das kann man glaube ich machen, wie man möchte.
Hätte ich bis vor Kurzem auch noch. Aber eines meiner Bücher ist doch als Fortsetzungsroman bei einer Zeitung erschienen. Als Harald das Manuskript formatiert hat, hatten wir hin und wieder telefoniert und er hat mir erklärt, dass man im Dialog alle Ziffern, incl Jahreszahlen ausschreibt, so wie sie gesprochen werden. Im Fließtext nicht. Nur im Dialog. Ich finde die Ziffern auch einfacher zu lesen als die ausgesprochenen Worte, aber wenn man das so macht ....



LG
Doro


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#4

RE: SGZ 28: Der Besserwisser

in Die Geschichten der Woche 16.07.2023 08:22
von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.151 Beiträge | 9415 Punkte

Liebe @Doro! Das ist ja eine super Geschichte. Könnte ich mir total vorstellen, dass sowas wirklich passiert!
Gerade in diesem Job, ist es wichtig, die Fakten dem Publikum unterhaltsam zu präsentieren!
Ich fand zwar gemein, dass der junge Mann vor allen anderen kritisiert wurde, da er aber so unhöflich war, hat er es nicht besser verdient!
Und der Ältere hat wieder einen Job.
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LG
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#5

RE: SGZ 28: Der Besserwisser

in Die Geschichten der Woche 16.07.2023 10:27
von Michael Kothe • Fleißbiene / Fleißdrohne | 137 Beiträge | 203 Punkte

Liebe @Doro,

danke für die tolle Geschichte! Wirklich sympathisch und so richtig zum Wohlfühlen. Positive Nachrichten sind heutzutage ja selten, und so freue ich mich mit Quirin über seinen neuen Job.

LG
Michael


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#6

RE: SGZ 28: Der Besserwisser

in Die Geschichten der Woche 16.07.2023 12:03
von -jek • Federlibelle | 711 Beiträge | 2145 Punkte

@Doro Ich kann nicht viel dazu schreiben, weil ich gleich auf Wikipedia den Cappenberger Kopf eingeben möchte ;-))
Aber ich finde deine Geschichte hat Handund Fuß und ist gelungen komponiert. Letzlich geht es ja um ein gewichtiges Thema, nämlich darum, dass viele Ältere sich von der Zeit überholt und abgeschoben sehen. Gerade hörte ich, dass mein Ex-Schwager verstorben ist. Nach Jahrzehnten als Ingenieur in der DDR wurde er nach der Wende mit etwa 50 zum Alten Eisen geworfen und musste damit 30 Jahre lang leben. RIP


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#7

RE: SGZ 28: Der Besserwisser

in Die Geschichten der Woche 16.07.2023 12:58
von Doro • Federlibelle | 2.350 Beiträge | 9189 Punkte

Liebe @Carlotta Lila ,

Zitat von Carlotta Lila im Beitrag #4
Gerade in diesem Job, ist es wichtig, die Fakten dem Publikum unterhaltsam zu präsentieren!
Total. Man schaltet sonst geistig ab. Allerdings sollten die Fakten halt auch noch stimmen. Was den meisten nicht auffallen würde. Mein Mann und ich haben uns vor vielen Jahren irgendeine Burg angeschaut. Wo, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich die Führung ganz gut, weil unterhaltsam fand. Mein Mann dagegen nicht, weil der Burgführer viele Fehler in seinen Ausführungen hatte. Mir wären sie nicht aufgefallen, weil ich mich nicht gut genug auskenne - mein Mann schon.

LG
Doro


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