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SGZ Nr. 21: Fidels letzte Rache
in Die Geschichten der Woche 27.05.2023 14:21von Doro • Federlibelle | 2.416 Beiträge | 9470 Punkte
Fidels letzte Rache
Stefanie tastete nach dem Umschlag in der Manteltasche. Zehn Mark hatte Tante Luise ihr zum Geburtstag geschickt. Deutsche Mark, nicht DDR-Mark. Das war jetzt drei Wochen her. Was sie sich davon kaufen würde, wusste sie noch nicht genau.
„Nu trödeln nich so“, meckerte Mutti, „sonst fährt der Bus ohne uns.“
Den Intershop kannte Stefanie bisher nur aus Erzählungen. Heute war ihr großer Tag. Mutti fände es besser, wenn sie das Geld sparen würde. Aber Vati war auf ihrer Seite. „Mit ihrem eigenem Geld darf sie machen, was sie will“, hatte er erklärt und damit war das Thema erledigt gewesen.
Als sie in den Bus eingestiegen waren, setzten sie sich auf eine Zweierbank. Stefanie durfte ans Fenster. Sie drückte die Nase an die Scheibe und hauchte dagegen.
„Stefanie!“, mahnte Mutti, als sie mit dem Finger ein Herz auf die Scheibe malen wollte. Schnell schob sie die Hand unter den Po und starrte auf die Straße. „Überall Polizei“, flüsterte sie Mutti zu.
Mutti nickte. „Vati hat gesagt, dass heute ein Treffen der beiden Willis stattfindet. Hier bei uns in Erfurt. Im Erfurter Hof.“
„Welche Willis?“, wollte Stefanie wissen. Ihren Goldhamster meinte sie ja wohl nicht.
„Na den Willi Brandt von drüben und unsren Willi Stoph.“
„Ach so.“ Stefanie hatte keine Ahnung, wer die beiden waren, und es war ihr auch egal. „Ist das gut, dass die sich treffen?“
„Nicht so laut.“ Mutti warf ihr einen bösen Blick zu.
Stefanie sah sich um. Niemand saß direkt vor oder hinten ihnen, also warum durfte man sich im Bus nicht normal unterhalten?
„Ja, das ist sogar sehr gut“, antwortete Mutti. „Dann wird vielleicht alles besser, sagt Vati.“ Den letzten Satz flüsterte sie, sodass Stefanie fast nichts verstand. „Und jetzt is gut!“
Stefanie wusste, dass sie nun besser ihren Mund halten sollte. Da sie unbedingt in den Intershop wollte, schwieg sie die restliche Fahrt. Nicht, dass sie zu Muttis Termin mitmusste. Das wollte sie auf keinen Fall.
Von der Bushaltestelle waren es einige Minuten zu Fuß. Stefanies Aufregung wuchs. Warum ging Mutti immer so langsam? Immer, wenn sie es eilig hatte, trödelten die Erwachsenen.
„Weißt du schon, was du dir für das Geld von Tante Luise kaufst?“
Stefanie schüttelte den Kopf.
„Du musst nich alles ausgeben. Wenn du dich nich entscheiden kannst, ist es kein Problem.“ Mutti warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Jetzt isses Viertel vor. Ich denk, in einer halben Stunde bin ich fertig. Danach müssen wir noch zur Kaufhalle.“ Sie deutete auf den Supermarkt, an dem sie soeben vorbeiliefen. Nebenbei wühlte sie in der Handtasche. „Wo is schon wieder der Biddel. Ah hier.“ Sie zog zwei braungeblümten Einkaufsbeutel heraus und hielt sie Stefanie unter die Nase. „Brauchst du?“
„Nee.“
„‚Nein, danke‘ heißt das.“
Stefanie verdrehte die Augen, aber so, dass Mutti es nicht sehen konnte. „Nein, danke“, wiederholte sie artig.
Mutti blieb stehen und studierte die Angebote auf der Tafel. „Was gäbe ich drum, mal wieder richtige Apfelsinen zu essen“, seufzte sie. „Oder eine Banane.“
„Was stimmt mit denen nicht?“, hakte Stefanie nach.
Mutti zog sie weiter, beugte den Kopf zu ihr und erst nachdem niemand in der Nähe war, flüsterte sie: „Die Orangen sin alle aus Kuba. Kann man höchstens Saft drausmachen. Grün, viele Kerne und total faserig. Drum heißen die hier überall ‚Fidels letzte Rache‘.“
Stefanie runzelte die Stirn. „Versteh ich nicht.“
Mutti strich ihr über die Haare. „Das glaub ich dir mein Schatz. Erklär ich dir ma später.“
Vor dem Intershop trennten sie sich. Natürlich konnte Mutti nicht gehen, ohne eine ganze Latte an Ermahnungen herunterzurattern. Stefanie lächelte nickend, hörte aber nicht richtig hin. Sie wollte jetzt einkaufen und ihr Geburtstagsgeld ausgeben. Zum Abschied gab ihr Mutti noch einen Kuss und verschwand. Stefanie sah sich um, aber niemand schien die Peinlichkeit bemerkt zu haben. Sie straffte die Schultern und betrat zum ersten Mal in ihrem Leben einen Intershop. Als erstes lief sie sämtliche Reihen ab und bestaunte die Artikel. Was es nicht alles gab. Und wie viel davon! Am längsten blieb sie vor dem Regal mit den Süßigkeiten stehen. Irgendwann warf sie einen Blick auf die Leika-Armbanduhr, die sie von Tante Luise bekommen hatte, als sie in die Unterstufe gekommen war. Das war zwar fast drei Jahre her, aber sie gefiel ihr immer noch. Im Herbst würde sie zur Mittelstufe gehören. Nur noch fünf Minuten und sie konnte sich nicht entscheiden.
Die Süßigkeiten lockten sehr, aber die waren furchtbar teuer. Eine Tafel Milkaschokolade kostete sieben Mark. Stefanie überlegte, lief erneut die Regale ab. Diesmal schneller. Und plötzlich wusste sie, was sie machen würde.
Stolz gab sie dem Fräulein an der Kasse den Geldschein. Sie bekam sogar noch etwas zurück und das Fräulein legte eine Plastiktüte dazu. Stefanie packte den Einkauf in die Tüte. Da würde Mutti Augen machen. Vor dem Intershop hüpfte sie auf der Stelle und reckte das Kinn. Als Mutti auf sie zuging, winkte Stefanie.
„Hast du was gefunden?“, fragte Mutti und versuchte in die Plastiktüte zu spähen.
Stefanie nickte. Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals. Was, wenn Mutti schimpfte? In Zeitlupentempo öffnete sie die Tüte einen Spalt und ließ Mutti hineinschauen.
„Organgen!“, rief Mutti. „Und die sin wirklich orange und nich grün.“
„Weil du die so gerne essen wolltest“, sagte Stefanie zögernd.
„Bananen och noch. Nu schau dir das an.“ Mutti fasste in die Tüte und strich vorsichtig über das blaue Schildchen, das auf der Banane klebte. Eine Träne kullerte über ihre Wange.
Stefanie erschrak und hätte fast die Tüte fallen lassen. Da nahm Mutti sie in den Arm und drückte sie ganz fest. „Danke mein Schatz. Aber du solltest dein Geld für dich ausgeben.“
Stefanie grinste und fasste in die Plastiktüte und zog ein Eis am Stiel heraus. Das wollte sie schon immer mal probieren. „Ed von Schleck! Das ist für mich.“
Anmerkung: In der DDR kamen die Orangen (Apfelsinen, wie sie dort hießen) aus Kuba. Sie taugten aber höchstens zum Entsaften und wurden deshalb spöttisch "Fidels letzte Rache" genannt.
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)
RE: SGZ Nr. 21: Fidels letzte Rache
in Die Geschichten der Woche 27.05.2023 14:39von Sabrina Meinen • Federlibelle | 574 Beiträge | 1695 Punkte
@Doro: Kennst du Erfurt? Ich bin als Kind öfters dort gewesen und auch ein paar Mal mit meinem Mann. Deine Geschichte gefällt mir.Es gibt nur eine Sache, die ich mir mehr wünsche: mehr Gesächsel von der Mama. Klau ihr die K's und P's damit die Orangen aus Guba gommen und da Baba nich schimpft.Gerade im Raum Erfurt ist das Gesächsel schlimm, es fällt mir immer wieder auf. Mein Ältester hat mich sogar schon gefragt, ob wir in einem anderen Land als wir dort waren ...
Finde den Mut für die Veränderung, die du dir wünscht,
die Kraft, es durchzuziehen
und den Glauben daran, dass sich alles zum Besten wenden wird.
RE: SGZ Nr. 21: Fidels letzte Rache
in Die Geschichten der Woche 27.05.2023 15:15von Doro • Federlibelle | 2.416 Beiträge | 9470 Punkte
Zitat von Sabrina Meinen im Beitrag #2@Sabrina Meinen , ich war mal mit dem Deutschleistungskurs da. Damals (das war 1996) haben wir uns Erfurt, Leipzig und Dresden angeschaut. Es war Februar und saukalt, sodass die Milch, die es zum Frühstück gab, noch gefroren war und wir zum Schlafen alles angezogen haben, was wir dabeihatten, weil in der Erfurter Jugendherberge die Heizung nicht funktioniert hat.
Kennst du Erfurt?
Meine Mutter hatte Verwandschaft, die von "drüben" kam. Die haben tatsächlich nicht gesächselt. Oder ich kann mich nich mehr dran erinnern. (Ich weiß nur noch, dass deren Tochter am 29. Februar Geburtstag hatte. Das hat mich als Kind am meisten beeindruckt. Und meine Mutter hat "Kehrpakete" hingeschickt. Später sind sie nach Hamburg gezogen, aber der Kontakt ist inzwischen abgebrochen.)
Nach Erfurt habe ich die Geschichte gelegt, weil sich da die beiden Willis getroffen haben. Komischerweise sind mir bei dem SGZ-Wort sofort die Intershops eingefallen.
LG
Doro
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RE: SGZ Nr. 21: Fidels letzte Rache
in Die Geschichten der Woche 28.05.2023 09:17von Bree • Federlibelle | 4.476 Beiträge | 18165 Punkte
Liebe @Doro
eine tolle Geschichte! Zwar ahnte ich rasch, was Stefanie eingekauft hatte, doch das störte mich nicht.
Begeistert bin ich, weil ich eine Story aus DDR-Zeiten von dir nicht vermutet hätte, und sie dir so gut gelungen ist. Besonders authentisch: Das "Nicht so laut!" etc., das deutlich macht, dass man nie wissen konnte, wer mithört. Du hast nicht explizit gesagt, dass die Angst vor der Stasi allgegenwärtig war, und das ist prima so, denn es kommt auf diese Weise viel besser rüber. Top!
Die Info über die Apfelsinen / Orangen kannte ich noch nicht und fand sie interessant.
Den Nachsatz hätte es aber nicht gebraucht, die Information hast du ja bereits im Text untergebracht. Ein Lob auch für den Titel: Der macht richtig neugierig.
@Sabrina Meinen
Danke für den Hinweis mit dem Dialekt. Ich kann kein Sächsisch, aber Ks und Ps weglassen ist ein prima Tipp, falls ich es mal versuchen möchte ...
LG
Bree
Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)
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RE: SGZ Nr. 21: Fidels letzte Rache
in Die Geschichten der Woche 28.05.2023 20:07von Sabrina Meinen • Federlibelle | 574 Beiträge | 1695 Punkte
@Bree: Ich kann gern ein Beispiel geben:
"No, ich hab och Ginder - zwe Döchder. Un die hom gesdern in unsera Karage Unordnung gemochd. Haja Baba sein is schwer."
Seltsamerweise können die kein K richtig sprechen, aber sagen dann nicht Garage sondern Karage.
Wenn ich meinen Mann etwas ärgern will, sächsel ich eine Runde. Aber eigentlich mag ich das nicht. Und mir schmerzt hinterher der Kiefer, weil ich den Unterkiefer nach vorne schiebe, damit ich die gesamten Laute hinbekomme.
Finde den Mut für die Veränderung, die du dir wünscht,
die Kraft, es durchzuziehen
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RE: SGZ Nr. 21: Fidels letzte Rache
in Die Geschichten der Woche 29.05.2023 07:40von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.245 Beiträge | 9969 Punkte
Liebe @Doro, für mich war alles neu an der Geschichte! Fidels letzte Rache, das ist ja lustig (-:
Ein liebes Kind, dass seiner Mutter einen Herzenswunsch erfüllt. Auch die Atmosphäre der Angst schwingt mit!
Gerne gelesen!
Carlotta Lila
https://www.leseflamme.jimdofree.com
Unsere größte Schwäche liegt im Aufgeben. Der sicherste Weg zum Erfolg ist immer, es noch einmal zu versuchen.
Thomas Alva Edison
RE: SGZ Nr. 21: Fidels letzte Rache
in Die Geschichten der Woche 31.05.2023 09:32von Doro • Federlibelle | 2.416 Beiträge | 9470 Punkte
Liebe @Bree ,
Zitat von Bree im Beitrag #4Das ist doch schön, wenn ich dich überraschen konnte.
weil ich eine Story aus DDR-Zeiten von dir nicht vermutet hätte, und sie dir so gut gelungen ist.
Zitat von Bree im Beitrag #4Als wir vor dem Abi mit dem Deutsch-Leistungskurs in der DDR waren, fand ich es doch sehr befremdlich, dass man immer aufpassen musste, was man sagt. An einem Abend hatten wir ein - arrangiertes - Treffen mit Jugendlichen aus der DDR. Da waren die Fragen, die gestellt würden, vorher bekannt und unsere Lehrer haben uns die "richtigen" Antworten eingetrichtert. Wir durften sonst nix sagen. Interessant wurde es erst später, denn in unsren Hotel gab es eine Disco und als der arrangierte Teil vorbei war, traf sich ein Teil eben dort. Ohne Lehrer oder sonstiges Aufsichtspersonal.
dass die Angst vor der Stasi allgegenwärtig war,
Ausserdem war jeden Tag Zeit zum Shoppen eingeplant. Nur - es gab praktisch nix, was wir hätten dort kaufen wollen. Musiknoten habe ich mir damals gekauft. Das wars.
@Sabrina Meinen,
danke für die Tipps bzgl "Sächseln". Ich hab jetz Kuba in Guba geändert, wie du es vorgeschlagen hast.
LG
Doro
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)
RE: SGZ Nr. 21: Fidels letzte Rache
in Die Geschichten der Woche 31.05.2023 11:07von Sabrina Meinen • Federlibelle | 574 Beiträge | 1695 Punkte
@Doro: schrecklich, dass du als Kind eine solche Erfahrung gemacht hast.
Dieses "darüber nicht reden dürfen" gibt es immer noch. So wie die eine oder andere Verhaltensweise.
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