#1

On THE ROAD - Termine, Termine

in Archiv 08.05.2023 19:58
von moriazwo • Federlibelle | 329 Beiträge | 1232 Punkte

»Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
Claires Kopf tauchte unter der Motorhaube ihres Autos hervor und sie suchte nach dem Urheber der Frage. Ein junger Mann stieg gerade aus einem alten rostigen Honda Civic aus und lächelte sie an.
»Darf ich mal sehen?«
Claire trat einen Schritt zur Seite und deutete auf den Motorraum. »Bitte.«
Der Mann trat näher.
»Thomas«, stellte er sich vor und beugte sich über den Motor.
»Und?«, fragte sie. »Können Sie etwas erkennen?«
»Ihr Fahrzeug hat definitiv einen Motor«, sagte er und grinste sie von der Seite her an. »Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich von Autos nicht viel verstehe.«
»Was soll der ganze Quatsch dann? Wieso fragen Sie dann überhaupt, ob Sie mir helfen können, wenn Sie es sowieso nicht können?«
Er zuckte mit den Achseln. »Na ja, ich hab Sie da so einsam und hilflos am Straßenrand gesehen, und da dachte ich ...«
Claires Miene wurde abweisend. »... dass es eine gute Gelegenheit wäre, eine junge Frau anzumachen?«
Thomas hob abwehrend die Hände. »Nein, Sie verstehen das falsch. Es hätte ja auch etwas Einfaches sein können, ein Reifen zum Beispiel, oder ich könnte den Abschleppdienst rufen, oder Ihnen einfach nur Gesellschaft leisten.«
Als sie nichts sagte, wandte er sich ab. »Ich wollte nur freundlich sein, aber vielleicht sollte ich mich wieder auf den Weg machen. Wird sowieso knapp, meinen Termin noch zu schaffen.«
Er drehte sich noch einmal zu Claire um. »Letztes Angebot: Ich nehme Sie bis zum nächsten Ort mit, und dann trennen sich unsere Wege.«
Claires Miene entspannte sich. »Von mir aus. Sie wirken nicht wie ein Axtmörder.«
»Von mir aus«, äffte er sie nach. »Ist ja entzückend! Wie viele Axtmörder kennen Sie eigentlich?«
Sie sagte nichts, trat aber an seinen Wagen heran. Er öffnete die Beifahrertür und hielt sie offen. Erst, als er ihr angewidertes Gesicht bemerkte, folgte er ihrem Blick.
»Moment, ich mache den Sitz frei. Ich weiß, es sieht aus wie eine Müllkippe, aber es wirkt schlimmer als es aussieht. Ihre Entscheidung.«
Claire setzte sich vorsichtig und bemühte sich, nicht allzu viel dabei anzufassen.
Thomas stieg ein und startete. Das Motorengeräusch verhieß auch nichts Gutes.
»Und wie darf ich Sie nun anreden?«, fragte er. »Oder gehen wir gleich zum Du über? Das macht es einfacher.«
»Claire.«
Er wartete, aber seine Begleiterin war nicht gesprächig.
»Gut, Claire also. Ich sag jetzt einfach Du, okay? Wo geht’s denn hin? Ich meine, bevor deine Karre verreckt ist.«
»Essen.«
»Essen im Ruhrgebiet?«, wunderte er sich. »Was für ein Zufall. Da muss ich auch hin. Was treibt dich so Wichtiges nach Essen?«
»Das ist persönlich.«
»Ach komm, Claire. Wir sind zwei Fremde und vermutlich sehen wir uns nie wieder, wenn wir Essen erreicht haben. Du kannst es mir ruhig erzählen.«
Sie wandte sich ihm zu. »Du bist verdammt neugierig, hat dir das schon mal jemand gesagt?«
Er nickte. »Andauernd. Ist ‘ne Macke von mir. Ist aber besser, als sich die nächsten dreihundert Kilometer anzuschweigen.«
Als sie nichts sagte, bohrte er weiter: »Und?«
Zum ersten Mal verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. »Du zuerst.«
»Touché«, meinte er und grinste. »Gut. Ich muss nach Essen, um mich dort mit meiner Frau zu treffen. Vielleicht sollte ich Noch-Ehefrau sagen.«
»Du bist verheiratet?«, fragte sie überrascht. »Hätte ich dir nicht zugetraut. Aber Noch-Ehefrau? Was ist passiert?«
»Nichts ist passiert. Wir waren jung und dumm. Ich hab sie im Urlaub kennengelernt. Wir sind beide aufeinander abgefahren, das Eine gab das Andere und am Ende des Urlaubs ließen wir uns trauen. Dummerweise reicht eine Urlaubsschwärmerei nicht für den Alltag in Deutschland. Vor allem dann nicht, wenn man sich eigentlich nicht liebt.«
»Ihr habt geheiratet, obwohl ihr euch nicht liebt?«, fragte Claire verständnislos.
»Hast du noch nie einen gravierenden Fehler gemacht? In einer Stimmung, wo der Verstand aussetzt? Heute weiß ich, dass es ein Fehler war. Karla weiß das inzwischen auch. Es hat von Beginn an nicht funktioniert.«
»Dann lebt ihr auch nicht zusammen?«
»Müsste ich sonst durch die halbe Republik fahren, um diese Sache zu beenden? Ich muss um 13 Uhr in Essen sein, sonst geht dieses Theater noch weiter.«
»13 Uhr?«, murmelte Claire. »Dann muss ich auch dort sein.«
»Wir können froh sein, wenn wir es überhaupt bis dahin schaffen«, sagte Thomas. »Aber ich kann dich nicht auch noch zu deinem Termin fahren, und selbst zu spät kommen. Das verstehst du doch sicher. Weshalb willst du überhaupt nach Essen?«
»Weil ich heirate.«
»Was? Du willst heute heiraten? Im Ernst?« Er sah sie prüfend an.
»Was schaust du so?«, fragte sie.
»Müsstest du da nicht ein Brautkleid haben oder zumindest irgendwas Festliches zum Anziehen? Aber Jeans, Sneakers und ein Tank-Top? Nicht, das mir das nicht gefällt, aber ...«
»Ich glaube, das geht dich nichts an!«
»Das denke ich schon. Immerhin sitzt du in meinem Auto und lässt dich von mir kutschieren. Solltest du nicht wenigstens glücklich sein, wenn du zu deiner Hochzeit fährst? Du wirkst aber nicht glücklich!«
»Was weißt du denn schon?«, fuhr sie ihn an. »Rennst gleich nach ein paar Tagen zum Standesamt, obwohl du deine Frau überhaupt nicht kennst.«
»Holla! Endlich gehst du mal aus dir heraus! Jetzt komm schon ... Wie lange kennst du deinen Zukünftigen?«
»Seit dem Kindergarten. Wir haben gemeinsam die Grundschule besucht, das Gymnasium und einen Teil unseres Studiums. Wir kennen einander in jeglicher Hinsicht. Jetzt zu heiraten ist die logische Konsequenz. Es ist überhaupt nicht anders vorstellbar.«
Thomas fuhr den Wagen auf den Seitenstreifen und hielt an. »Claire, das ist kompletter Bullshit. Ich frage dich mal ganz direkt: Seid ihr ein Liebespaar?«
»Das verstehst du nicht.«
Er sah Claire direkt an. »Dann erkläre es mir. Ich hab Karla geheiratet und es war falsch. Aber ich habe mir zumindest eingebildet, dass es richtig wäre. Liebst du deine Kindergartenbekanntschaft? Ist seit dem Sandkasten irgendetwas passiert zwischen euch?«
»Was geht dich das überhaupt an?«, brüllte sie und Tränen quollen aus ihren Augenwinkeln.
»Vermutlich nichts«, gab er zu. »Aber ich finde dich sehr nett und sehe, wie du mit offenen Augen einen Fehler machst, den ich vor einiger Zeit auch gemacht habe. Ich frage dich noch mal: Liebst du ihn?«
»Wir waren immer zusammen«, sagte sie leise. »Es gab immer nur Wolfgang. Verstehst du denn nicht? Es hat etwas zu bedeuten.«
Claire tupfte sich die Augen trocken und blickte nach vorn. »Fahr mich einfach nach Essen und dann bist du mich los.«
»Du bist verrückt!«, schimpfte Thomas. »Ich lasse es nicht zu, dass du dein Leben einfach wegwirfst. Ich sehe doch, dass du nicht glücklich mit dieser Entscheidung bist.«
»Und wie willst du mich daran hindern?«
»Ich fahre nach Essen, ja, weil ich selbst dorthin muss. Ich will meine Freiheit zurück und Karla geht es nicht anders. Aber deinen Termin kannst du dir knicken. Ich kenne deinen Wolfgang nicht, aber ich spüre, dass du ihn nur aus reiner Bequemlichkeit heiraten willst. Liebt er dich denn?«
»Natürlich.«
»Das weißt du genau? Hat er dir das gesagt? Ins Ohr geflüstert, wenn er dich im Arm gehalten hat?«
»Das geht dich einen Schei...!«
»Wusste ich es doch!«
»Was wusstest du?«
Thomas legte ihr eine Hand auf den Arm. »Dass ihr beide einen Fehler macht.«
»Aber unsere Eltern ... Sie gehen fest davon aus ... Und es bietet sich ja auch an ...«
Tränen rannen ihr jetzt über die Wangen.
Er zog sie zu sich und nahm sie in den Arm.
»Was soll ich denn jetzt machen?«, fragte sie schluchzend.
»Erst einmal fahren wir zusammen nach Essen. Dort regle ich meine Scheidung. Du kannst in der Zwischenzeit ein paar Anrufe machen und diese Hochzeit absagen, die du nicht wirklich willst.«
»Ja, aber ...«
Er küsste sie sanft auf den Scheitel. »Danach gehen wir zwei etwas trinken und reden, wenn du magst. Ich würde diese Claire nämlich gern etwas näher kennenlernen.«
Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen. »Ja, so machen wir es, Fremder ...«


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#2

RE: On THE ROAD - Termine, Termine

in Archiv 09.05.2023 07:40
von Anka • Federlibelle | 763 Beiträge | 3377 Punkte

@Moriazwo, was für eine schöne Liebesgeschichte mit zwei Menschen, die völlig gegensätzliche Ziele haben und am Ende zusammen finden. Hoffentlich macht Thomas nicht den gleichen Fehler noch einmal. Zumindest hilft er Claire, die richtige Entscheidung zu treffen, die sie - wie es aussieht - nicht bereuen wird. Die Idee hat mir sehr gefallen und auch die Umsetzung. Sehr unterhaltsam geschrieben mit lebendigen Dialogen.


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#3

RE: On THE ROAD - Termine, Termine

in Archiv 10.05.2023 08:56
von Bree • Federlibelle | 4.647 Beiträge | 19106 Punkte

Hallo @Moriazwo

da habe ich dich mit diesem Thema aber sowas von aus deiner Komfortzone geholt, was? Prima! Natürlich hätte deine Geschichte auch in einem Raumschiff spielen können, aber du hast dir etwas anderes vorgenommen und so eine unterhaltsame Story erzählt, die auf unserer guten alten Erde spielt. Das gefällt mir.
Aus deiner Geschichte kann man entnehmen, dass es riskant ist, jemanden zu heiraten, den man a) entweder gar nicht oder b) schon sein ganzes Leben lang kennt. Und jemanden zu ehelichen, weil alle es von einem erwarten, ist bestimmt ein Fehler. Gut, dass Thomas der lieben Claire deutlich macht, dass dieser Grund nicht der beste ist.
Er scheint sein Herz recht schnell zu verlieren. Wollen wir hoffen, dass diese neue Liebe von längerer Dauer ist ...
Mir gefielen besonders die lebhaften Dialoge der beiden. Schön gemacht!

LG
Bree


Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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#4

RE: On THE ROAD - Termine, Termine

in Archiv 10.05.2023 10:01
von moriazwo • Federlibelle | 329 Beiträge | 1232 Punkte

@Bree
Da hast du wohl recht, dass du mich da völlig aus meiner Komfortzone geholt hast. Zum Glück gab es zumindest diese Rubrik bei den Aufgabenstellungen, denn Märchen / Fantasy würde mir noch viel weniger liegen - und Gedichte? Da wäre ich ganz raus.

Zitat
Er scheint sein Herz recht schnell zu verlieren. Wollen wir hoffen, dass diese neue Liebe von längerer Dauer ist ...

Ha, ha, da hast du wohl auch recht. Aber was sollte ich machen? Die Uhr tickte ja schließlich und achttausend Zeichen sind schon ein verdammt enges Korsett für jemanden, der gern ausschweifend Romane schreibt.


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#5

RE: On THE ROAD - Termine, Termine

in Archiv 10.05.2023 18:07
von Michael Kothe • Fleißbiene / Fleißdrohne | 137 Beiträge | 203 Punkte

Hä, zweite Story?
So perplex ich auch bin, so gut hat mir diese Geschichte gefallen. Ein hervorragende Idee - und auch prima umgesetzt -, dass die Scheidung des einen auf den Zeitpunkt der Hochzeit der Anderen fällt. Und dass die Lebenserfahrung über eine vorschnelle Entscheidung aus falschen Motiven heraus obsiegt. Klasse! Dass das ganze so komprimiert und damit schnell funktioniert, ist ja der Kürze bzw. Zeichenzahl geschuldet. Etwas mehr Zeit wäre realistischer, was aber meiner Begeisterung keinen Abbruch tut.
LG. Michael


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#6

RE: On THE ROAD - Termine, Termine

in Archiv 25.05.2023 16:37
von -jek • Federlibelle | 764 Beiträge | 2259 Punkte

@moriazwo Der letzte Satz war ein Satz zuviel. Der Rest war erste Sahne, die Idee sowieso, aber auch der Dialog.


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Wenn du Schreibregeln beherrscht, ist das gut. Wenn sie dich beherrschen, ist das schlecht.
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#7

RE: On THE ROAD - Termine, Termine

in Archiv 25.05.2023 17:03
von moriazwo • Federlibelle | 329 Beiträge | 1232 Punkte

@-jek
Danke für dein Feedback. Das Lob ging runter wie Öl, aber auch die Kritik ist okay. Ich habe mir den letzten Satz jetzt - mit etwas Abstand noch mal angesehen.Ich gebe es ja nicht gern zu, aber der ist wirklich etwas "too much" ...


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#8

RE: On THE ROAD - Termine, Termine

in Archiv 25.05.2023 21:57
von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.300 Beiträge | 10272 Punkte

Hallo @moriazwo! Einfach und gleichzeitig so interessant dass ich nicht aufhören wollte zu lesen. Schön, dass es der Beginn einer Lovestory ist!
Viele Grüße (-:
Carlotta Lila


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#9

RE: On THE ROAD - Termine, Termine

in Archiv 11.06.2023 20:54
von Jana88 • Federlibelle | 573 Beiträge | 1320 Punkte

Oh, na da hatte sie ja eine richtige Therapiestunde bei ihm. Klasse.
Wie schön, dass er das aus ihr rausgeholt hat. Sonst wäre es dumm gelaufen für sie.
Schade, dass es sowas immernoch gibt mit diesen erwarteten Hochzeiten.


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Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende *Oscar Wilde
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