#1

MÄRCHENHAFT - Hilda Honigzopf

in Archiv 06.05.2023 08:42
von Anka • Federlibelle | 763 Beiträge | 3377 Punkte

Hilda Honigzopf

Es war einmal eine traurige Autorin mit Namen Hilda Honigzopf. Eigentlich hatte sie alles, um glücklich zu sein. Ein Häuschen, ein Garten, zwei wohlgeratene Kinder und einen perfekten Ehemann. Naja, fast perfekt. Denn den perfekten Ehemann gibt es bekanntlich nicht. Der kommt nur im Märchen vor. Dazu besaß sie einen Schatz von unsagbarem Wert, den hütete sie in ihrem Inneren und pflegte ihn mit frischer Luft, Bewegung und vitaminreicher Kost. Er hieß Gesundheit. Warum also war sie so traurig? Ihre Berufung war es, die dem Glück im Wege stand. Seit Kindheitstagen fühlte Hilda sich berufen, Geschichten zu schreiben. Das war ihre Bestimmung im Leben, da war sie sich sicher. Die Voraussetzungen dazu hatte sie. Einen klangvollen Namen, Phantasie, den Kopf voller Ideen und Inspirationen und – nicht zu vergessen – Erfahrungen. Die hatte sie im Laufe der Jahre sammeln können. Nur leider war ihr Honigzopf mit der Zeit grau geworden und das Gesicht verbittert. Denn tagtäglich musste sie dorthin fahren, wo sie nicht sein wollte. Ins Büro. Um Geld zu verdienen. Das Häuschen, der Garten, die beiden wohlgeratenen Kinder und der perfekte Ehemann – der natürlich auch seinen Beitrag leistete – benötigten Money, Moos, Knete oder Pinke Pinke. Ganz egal wie man es nannte. Auch ihr unsagbar wertvoller Schatz war sehr hungrig und musste gefüttert werden. Das Schreiben und Verkaufen von Geschichten reichten dafür bei Weitem nicht aus.

Hilda trat jeden Morgen im Badezimmer vor den Spiegel und erschrak vor sich selbst. Sie versuchte, ihre Falten mit teurer Tagescreme zu bedecken und die Haarfarbe, die das Grau nicht überdecken wollte, als Blond zu identifizieren. Oft hatte sie Erfolg damit, dass sie ihre Mundwinkel nach oben zog und sich blöd angrinste. Das half, zumindest für den Moment.
Eines Tages, als sie wieder vor dem Spiegel stand, fiel ihr das Märchen von Schneewittchen ein. Gab es dort nicht einen sprechenden Spiegel, der der eitlen Königin unverblümt die Wahrheit sagte? Hilda beschloss, es einfach mal auszuprobieren, räusperte sich und fragte: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wie werd‘ ich erfolgreich in diesem Land?“
Mag sein, dass die Feuchtigkeit, die vom Duschen noch in der Luft hing, die Illusion hervorrief. Es begann in Hildas Ohren zu rauschen und sie hörte deutlich eine weibliche, einschmeichelnde Stimme: „Frau Honigzopf, Ihr seid die erfolgreichste Autorin in diesem Haus. Aber draußen, hinter den sieben Bergen im Lande Internet, gibt es Autoren, die sind konsequenter als Ihr.“

Konsequent! Das war das Stichwort. Hilda begann noch am selben Tag mit dem Marketing für Ihre Bücher. Sie ließ ansprechende Flyer drucken und verschickte sie überall dorthin, wo sich lesehungrige Menschen herumtrieben, produzierte ein Kinderhörbuch zum Ruhigstellen der Sprößlinge für vielbeschäftigte Eltern und organisierte Lesungen in Cafés und Buchhandlungen. All das bereitete Hilda große Freude und bestätigte sie auf ihrem Weg. Die Abrechnungen zum Quartalsende gruben ihr allerdings noch tiefere Falten ins Gesicht und es fiel ihr zunehmend schwerer, ihre Mundwinkel zum Grinsen zu überreden. Zu allem Ärger hatte ein Monster namens Spotify ihr Hörbuch gefressen und spie es jetzt kostenfrei an die vielbeschäftigten Eltern aus, damit diese ihre Sprößlinge ruhigzustellen konnten. Diese Gelegenheit schien in den letzten Monaten eifrig genutzt worden zu sein, wie die Zahlen zeigten.

Frustriert trat Hilda vor ihren Badzimmerspiegel und fragte: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wie kämpf‘ ich gegen Monster in diesem Land?“ Wieder rauschte es in ihren Ohren und die weiblich-einschmeichelnde Stimme antwortete: „Frau Honigzopf, Ihr seid die erfolgreichste Autorin in diesem Haus. Aber das Monster Spotify ist tausendmal mächtiger als Ihr.“
Das wäre ja gelacht. In den kommenden Tagen untersuchte Hilda die Paragrafen und Klauseln in ihren Verträgen, schrieb E-Mails und führte Telefonate. Aber der Spiegel behielt recht, das Monster war mächtiger als sie.

Sie wollte schon aufgeben und sich von ihrer Bestimmung verabschieden. Da fiel ihr der Spiegel wieder ein, den konnte sie noch ein letztes Mal befragen. So strich sie sich die Haare aus dem verbitterten Gesicht, zog die Mundwinkel nach oben und fragte: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wie wird‘ ich erfolgreich in diesem Land?“
Dieses Mal antwortete die Stimme nicht gleich. Sie schien zu überlegen und Hilda wartete tapfer, auch wenn das Grinsen in ihrem Gesicht schon schmerzte. Endlich begann es zu rauschen und der Spiegel sagte: „Frau Honigzopf, ihr seid die erfolgreichste Autorin in diesem Haus. Aber draußen, hinter den sieben Bergen im Lande Internet, gibt es Autoren, die lesen sehr viel öfter als Ihr.“

Lesen? Hilda las regelmäßig abends im Bett, war aber immer so kaputt von ihrem Tag, dass sie schon nach einem Kapitel einschlief. Selbst wenn sie mehr las, würde das ihren Erfolg nur träge ankurbeln. Oder meinte der Spiegel Lesungen? Damit hatte sie es schon versucht, es waren auch immer drei bis fünf und einmal sogar sieben Zuhörer dabei gewesen. Hilda erinnerte sich, wieviel Spaß sie trotzdem gehabt hatte, wie die Leute ihre Texte lobten und sich anschließend darüber austauschten.

Sie fasste Mut und sprach die Veranstaltungsagentur an, mit der sie beruflich zu tun hatte. Der Chef Holger Habenstein, ein freundlich sächselnder Mann jenseits der sechzig, mit schütterem Haar und dünnem Zopf auf dem Rücken, nahm dankend ein signiertes Exemplar ihrer Motivationsgeschichten entgegen und versprach sich umzuhören. Viele Wochen später, zum Internationalen Frauentag, rief er an und hatte eine Lesung für Hilda in einem touristisch beliebten Ort organisiert, wo sie im Wechsel mit einem Gitarristen die Frauen zum Lächeln brachte. Auch in diesem Café war nicht jeder Tisch besetzt, doch es wurde ein sehr schöner Abend, an dem Hilda sogar eine alte Freundin wiedertraf.

Wenn unter dieser Geschichte zum Schluss der Satz stehen soll: „Und sie lebte glücklich bis an ihr Ende“, bedarf es dazu noch eines fulminanten Finales mit einem Happy End. Also tritt der freundlich sächselnde Holger Habenstein nochmals in Aktion und vermittelt Hilda eine Lesung an einem Ort, wo bis zu siebzig (!!) interessierte Zuhörer auf sie lauern würden, begierig darauf, sie und ihr Buch kennenzulernen. Nun fragt ihr euch, wo gibt es einen Ort, wo eine unbekannte Autorin so erwartet wird? Wahrscheinlich nur im Märchen. Nein. Diesen Ort findet man in jeder Stadt und in größeren sogar mehrmals. Und gerade Motivationsgeschichten sind dort ganz besonders gefragt.

So kam es, dass Hilda Honigzopf an einem schönen Sommertag im Juli mit ihrem fast perfekten Ehemann ins Oberlausitzer Bergland reiste und zum ersten Mal in ihrem Leben mit Mikrophon lesen musste, weil so viele Zuhörer anwesend waren. Ihre Geschichten kamen sehr gut an, genau wie Kaffee und Kuchen, die in der Pause angeboten wurden. Hinterher signierte und verkaufte sie eine ganze Reihe ihrer Bücher an die freundlichen Leute, die alle sehr viel Zeit zum Lesen hatten. Am Abend, im vom Veranstalter bezahlten Hotelzimmer, schaute ihr im Badezimmer aus dem Spiegel eine sehr glückliche Hilda entgegen. Sie brauchte den Spiegel nicht mehr fragen, denn sie hatte die Antwort gefunden. Es kam nicht darauf an, erfolgreich zu sein, sondern mit seinen Texten und Geschichten Freude zu verbreiten. Sich selbst – beim Schreiben und anderen – beim Vorlesen.

Nun wollt ihr noch wissen, wie dieser Ort hieß, an dem eine unbekannte Autorin einen solchen Erfolg feiern konnte? Das war im großen Speisesaal der Seniorenresidenz ‚Goldener Herbst‘ in Ebersbach-Neugersdorf 😊.


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#2

RE: MÄRCHENHAFT - Hilda Honigzopf

in Archiv 06.05.2023 11:08
von Bree • Federlibelle | 4.649 Beiträge | 19121 Punkte

Liebe @Anka

ich habe deine Geschichte mit großem Vergnügen und einem Dauerschmunzeln gelesen. Vom fast perfekten Ehemann über den grau gewordenen Honigzopf bis hin zu dem klugen Spiegel habe ich mich sehr gut unterhalten gefühlt.

Und da ich davon ausgehe, dass dein Märchen autobiographische Züge hat, möchte ich dir natürlich unbedingt zu deinem Durchhaltevermögen und deinem Erfolg gratulieren. Wie schön, dass du so viele begeisterte Leser und Zuhörer gefunden hast!

Auch ich habe bereits die Erfahrung gemacht, dass ältere Menschen gute "Kunden" sind. Sie haben Zeit zu lesen, wissen dieses Medium zu schätzen, weil sie noch nicht im digitalen Sumpf versickert sind, und sind obendrein gute Zuhörer, weil sie sich (zumindest meistens) noch gut konzentrieren können und mehr Geduld haben als so manche Jüngere.

Hör weiterhin auf deinen Spiegel, es kann nicht schaden!

LG
Bree


Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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#3

RE: MÄRCHENHAFT - Hilda Honigzopf

in Archiv 07.05.2023 12:11
von Chris2000 • Forums-Schmetterling | 59 Beiträge | 274 Punkte

Hihi, ich hatte den Eindruck, du kennst diese erfolgreiche Autorin persönlich😀


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#4

RE: MÄRCHENHAFT - Hilda Honigzopf

in Archiv 08.05.2023 19:29
von Michael Kothe • Fleißbiene / Fleißdrohne | 137 Beiträge | 203 Punkte

Hallo, @Anka,

ja, wenn doch alles so einfach wäre! Erfolgreiches Marketing schon im dritten Anlauf, der Coach im Badezimmer stets erreichbar ... Was mich neben Deinem humorigen Schreibstil und dem "Show, don't tell!" besonders begeistert, ist die Moral Deiner Erzählung. Der kann ich nur zustimmen.

LG. Michael


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#5

RE: MÄRCHENHAFT - Hilda Honigzopf

in Archiv 10.05.2023 19:48
von Sabrina Meinen • Federlibelle | 586 Beiträge | 1727 Punkte

@Anka: Wenn deine Geschichte auf realen Erlebnissen beruht, dann verrate mir bitte wo ich einen solchen Spiegel her bekomme. Ich brauche den dringend.

Eine schön Idee wie du deine Geschichte aufgebaut hast.


Finde den Mut für die Veränderung, die du dir wünscht,
die Kraft, es durchzuziehen
und den Glauben daran, dass sich alles zum Besten wenden wird.
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#6

RE: MÄRCHENHAFT - Hilda Honigzopf

in Archiv 26.05.2023 16:55
von Jana88 • Federlibelle | 573 Beiträge | 1320 Punkte

Oh wie schön.
Der Spiegel ist ja wirklich hilfreich und die Entwicklung der Protagonistin wirklich ganz große klasse!

So erträumt man sich das und einige haben das Glück, mit viel Fleiß und Mut genau sowas zu schaffen.

Eine tolle Geschichte.


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Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende *Oscar Wilde
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#7

RE: MÄRCHENHAFT - Hilda Honigzopf

in Archiv 26.05.2023 17:56
von -jek • Federlibelle | 764 Beiträge | 2259 Punkte

LIebe @Anka , danke für das Spieglein, das du uns vorhältst. Gute Verkaufszahlen sind sehr schön, aber noch wichtiger sind doch die Freude beim Schreiben und die Freude beim Vorlesen.


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Wenn du Schreibregeln beherrscht, ist das gut. Wenn sie dich beherrschen, ist das schlecht.
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