#1

On the Road - Die Wanderschaft der Brüder im Geiste Thomas und Martin

in Archiv 14.04.2023 23:22
von Yggdrasil • Federlibelle | 1.186 Beiträge | 3058 Punkte

Die Wanderschaft der Brüder im Geiste Martin und Thomas

Thomas betrachtete die Skulptur, die er vor einigen Jahren aus einem Stück der alten Mooreiche gefertigt hatte. Damals, als er zusammen mit Bruder Martin diesen nördlichsten Außenposten des römischen Petristuhles gegründet hatte, war Thomas noch mit großer Begeisterung von Köln aus in den Norden gepilgert, um das Christentum unter den Heiden zu verkünden. Er hatte geglaubt, die Liebe des Herrn würde seine Wirkung entfalten und die bedauernswerten Seelen im Grenzbereich zwischen dem Frankenreich und Skandinavien für die christliche Kirche gewinnen. Diesen Schutzschild Roms für die neue Herde sollte seine Skulptur symbolisieren. Eine menschliche Hand, die sich schützend um eine kleine Familie legte. Lange hatte er sich mit dem Werk beschäftigt, hatte Adern und Poren heraus gearbeitet, Fingergelenke geformt und die Nägel gestaltet und geschliffen, bis er zufrieden mit seiner Arbeit war.

Als Thomas aber im Laufe seiner Arbeit mit Bruder Martin erleben musste, dass das Wort allein nicht ausreichte, um die einfachen Leute für die neue Religion zu gewinnen, und Rom und Kaiser sie erst mit Gewalt überzeugen mussten, hatten sich Zweifel und große Enttäuschung in seinem Herzen breit gemacht. Wie konnte eine Zwangstaufe einen Menschen und seinen Glauben ändern? Wie ließ sich das Verletzen und Töten von Menschen mit dem Geist der Heiligen Schrift vereinbaren? Wie sollte man diese Kirche, wie sollte man diesen Gott lieben?

Thomas konnte und wollte sich nicht damit abfinden. Viele Tage und Nächte verbrachte er allein in seiner kleinen Hütte und ordnete seine Gedanken, dachte über sich und sein Leben, über seinen kirchlichen Auftrag nach. Hatte er den richtigen Weg eingeschlagen? Oder hielt das Leben noch anderes für ihn bereit? Thomas suchte das Gespräch mit Martin. Der Freund hörte sich alles an, was Thomas ihm erzählte. Dann dachte er lange darüber nach, bevor er zu sagte: „Mein Freund, wir sind schon ein gutes Stück des Weges miteinander gegangen. Ich habe mein Ziel hier gefunden. Wenn du glaubst, dich weiter prüfen zu müssen, dann gehe und suche deinen eigenen Lebensweg. Ob er richtig ist, wirst du erst am Endes feststellen.“
„Ich danke dir, Martin, ich werde ausführlich über deine weisen Worte und meine Gefühle nachdenken, bevor ich eine Entscheidung treffe.“

Das machte Thomas, und nutzte die Zeit, um eine weitere Figur zu schnitzen. Eine Maria, die den Altar des neu geweihten Doms an der Schlei schmücken sollte. Den Auftrag hatte er vom Bischof persönlich erhalten.
„Sie soll alle Liebe des Herrn ausdrücken“, hatte der Bischof gesagt. Tage und Wochen, ja Monate, hatte er an der Maria gearbeitet. Sie sollte perfekt werden, sein Meisterwerk. Aber so oft er das Ergebnis prüfte, nie war er zufrieden. Oder besser gesagt, er war innerlich mit sich zufrieden, wusste aber genau, dass der Bischof es nicht sein würde. Der Gesichtsausdruck Marias stimmte nicht, er las Zweifel aus ihren Zügen. Aber so sehr er sich auch bemühte beim Formen und Schleifen der Gesichtszüge, die Zweifel blieben.

Tief bekümmert hatte er Abschied genommen. Abschied vom Glauben an eine gute Kirche und auch von Bruder Martin. Er verehrte den älteren Mann wegen seiner Klugheit und seines Weitblicks. Thomas wusste aber auch, dass sein Lehrmeister große Hoffnung auf ihn, den Jüngeren, setzte. Dieses Wissen stimmte ihn traurig und ließ ihn zögern, seinem Entschluss umzusetzen. Doch dann war es soweit, der Abschied nahte.

Thomas hatte seine Habseligkeiten zusammengesucht, das Wenige, das er sein Eigen nannte. Er schnürte alles in ein Knotentuch und machte sich auf den Weg. Die Marienfigur hatte er auf die Werkbank gestellt und ein paar Zeilen des Dankes an Bruder Martin hinterlassen. „Danke für alles, guter Martin. Überarbeite bitte die Maria und gebe sie dem Bischof.“

Auf seinen Wanderungen durch die Nordländer wie Cimbria und Jutlandia, die Reiche der Seeländer, der Schonen und der Svea hatte er das Leben in vollen Zügen genießen können. Er hatte die Liebe erlernt und sich an Mägden und ihren Herrinnen gewärmt. Aber auch Raufereien und Trinkgelage begleiteten sein Leben. Er hatte sich durchgeschlagen mit kleinen Diebstählen oder mit der Kunst der Betörung bei den Frauen, um seinen Vorteil zu erlangen. Zum Dank hatten sie ihn reich beschenkt. Thomas hatte herrliche Schnitzereien geschaffen, die die stolzen Schiffe der Nordmänner zierten, mit denen sie ihre Reisen nach Irland und Britannien unternahmen. Er hatte auch die vielen Götter und Göttinnen kennengelernt, die diesen braven Leuten immer noch heilig waren. Bei so vielen Göttern kam es auf einen weiteren nicht an, meinten sie. Und so hatte sich ein mehr oder weniger friedliches Nebeneinander mit der Heiligen Kirche ergeben. Man hatte gelernt, mit dieser Art zu leben und feierte je nach Laune und Notwendigkeit die Feste der alten und der neuen Götter.

Ein halbes Menschenalter war seit seinem Abschied von Bruder Martin vergangen. Thomas hatte gesehen, dass sich das Wort Gottes trotz aller Widrigkeiten und Zweifel mehr und mehr über den Norden ausbreitete. Die Weisheit des Alters und die Fülle seiner Erfahrungen ließen ihn erkennen, dass in ferner Zukunft die alten Gottheiten weichen würden. Mit dieser Erkenntnis zog es ihn zurück zu seinem Ausgangspunkt, zu Bruder Martin. Müde folgte er dem Handelsweg nach Süden, der ihn unweigerlich zum Danewerk und der kleinen Kirche im Moor führen würde.

Nach vielen Wochen klopfte an die Tür des Antoniushauses, wie die kleine Kirche heute hieß. Bruder Martin hatte sie nach dem Heiligen Antonius benannt. Damals, bei seinem Abschied, wurde es von den Dorfleuten noch Donishaus genannt, eine hiesige Abwandlung des heidnischen Gottes Donar. Thomas lächelte. Wie ähnlich die beiden Namen klangen. Sogar hier hatte man den Weg des geringeren Widerstandes gewählt. Der Christengott hatte schlicht den Germanengott ersetzt.

Thomas klopfte an die Tür. Die schwere Eichentür öffnete sich mit vernehmlichem Knarren. Obwohl stark gealtert, erkannte Thomas in dem verwitterten Gesicht dennoch seinen Lehrmeister Martin. Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht des alten Kirchenmannes.
„Sei willkommen zum Gebet, Bruder Thomas.“

Sie traten an den Altar. Thomas lächelte, als er neben der Bibel seine Maria entdeckte. „Du hast sie nicht dem Bischof gegeben?“
Bruder Martin nahm die Marienfigur zur Hand und fuhr liebevoll über das glatte, bereits abgegriffene Holz.

„Glaube mir, Bruder Thomas, ich konnte damals gleich den tieferen Sinn deiner Arbeit erkennen. Deine Enttäuschung über unsere Mission ist mir ebenfalls nicht entgangen. All das spiegelt sich im Gesicht Marias wieder. Es tut mir leid, dass es anders gekommen ist, als du es dir erträumt hast. Ich hoffe, du verzeihst mir und der Kirche“.
„Und ich bin dankbar, dass du mich damals hast gehen lassen. Weit sind wir zusammen gewandert, vom Frankenreich bis hier ins Land der Friesen und Angeln. Dann sind wir eigene Wege gegangen, mich hat es bis an den Rand des ewigen Eises geführt. Dich hat unser gemeinsamer Weg zum vollkommenen Glauben geführt, mein alleiniger Weg mich zu viel Lebenserfahrung. Und doch sind wir im Herzen immer zusammen geblieben.“


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#2

RE: On the Road - Die Wanderschaft der Brüder im Geiste Thomas und Martin

in Archiv 15.04.2023 10:16
von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.151 Beiträge | 9415 Punkte

Lieber @Yggdrasil! Das ist ein wunderschöner Text. Er ist für mich eine Erinnerung daran, was einen wahren Künstler ausmacht: absolute Wahrhaftigkeit, Zweifel und Suche. Dein Schnitzer würde gerne etwas schaffen, dass dem Bischof gefällt, doch seine Seele lässt es nicht zu. Ein wenig klingt für mich hier Hermann Hesses Narziss und Goldmund an, obwohl die Zeit, die du beschreibst, eine andere ist.
Viele Grüße
Carlotta Lila


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#3

RE: On the Road - Die Wanderschaft der Brüder im Geiste Thomas und Martin

in Archiv 15.04.2023 15:07
von Bree • Federlibelle | 4.337 Beiträge | 17414 Punkte

Hallo @Carlotta Lila


du hattest -jek geantwortet, aber die Geschichte ist von @Yggdrasil
Ich war so frei, das zu berichtigen.

Lieber Marten,

wenn ich mich recht erinnere, habe ich von Thomas und Martin schon mal etwas gelesen, kann das sein? Sie kommen mir bekannt vor.
Eine schöne Geschichte. Thomas war zwar allein unterwegs, aber andererseits auch wieder nicht. Das gefällt mir.

Eine Frage habe ich aber, rein handwerklicher Natur. Warum schreibst du den größten Teil des Textes im Plusquamperfekt? Das klingt auf Dauer etwas sperrig. Im Perfekt hätte es mir besser gefallen.

Zitat
Auf seinen Wanderungen durch die Nordländer wie Cimbria und Jutlandia, die Reiche der Seeländer, der Schonen und der Svea hatte er das Leben in vollen Zügen genießen können. Er hatte die Liebe erlernt und sich an Mägden und ihren Herrinnen gewärmt. Aber auch Raufereien und Trinkgelage begleiteten sein Leben. Er hatte sich durchgeschlagen mit kleinen Diebstählen oder mit der Kunst der Betörung bei den Frauen, um seinen Vorteil zu erlangen. Zum Dank hatten sie ihn reich beschenkt. Thomas hatte herrliche Schnitzereien geschaffen,


Im Perfekt, den du am Schluss auch benutzt, hätte es mir besser gefallen.

Ich konnte Thomas und seine Zweifel jedenfalls gut verstehen und habe die Geschichte gern gelesen.

LG
Bree


Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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#4

RE: On the Road - Die Wanderschaft der Brüder im Geiste Thomas und Martin

in Archiv 15.04.2023 18:31
von Yggdrasil • Federlibelle | 1.186 Beiträge | 3058 Punkte

@Carlotta Lila Danke für den Kommentar, und ja: Hesse ist einer meiner liebsten Autoren, nicht nur Narziss und Goldmund, sondern vor allem Demian, der sogar Zugang zu Carlos Santanas "Abraxas" gefunden hat.


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#5

RE: On the Road - Die Wanderschaft der Brüder im Geiste Thomas und Martin

in Archiv 15.04.2023 18:34
von Yggdrasil • Federlibelle | 1.186 Beiträge | 3058 Punkte

@Bree Ja, die beiden Figuren habe ich seit 2013, aber als Thomas und Bonifatius. Mehrere Geschichten kreisen um sie.

Zum Plusquamferfekt: Er soll als Stilmittel gelten. Ich denke, das passt sehr gut zur "alten" Sprache, habe ich einmal so in einem Schreibkurs gelernt - und gern beinehalten.


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#6

RE: On the Road - Die Wanderschaft der Brüder im Geiste Thomas und Martin

in Archiv 17.04.2023 23:53
von Anka • Federlibelle | 756 Beiträge | 3343 Punkte

@Yggdrasil, ich mag deine Geschichte und vor allem Thomas. Seine Enttäuschung kann ich gut nachvollziehen und auch den Entschluss - seinen eigenen Weg zu gehen, zu dem ihn Bruder Martin noch ermuntert. Sehr schön hast du beschrieben, wie er an den Skulpturen arbeitet, aber auch wie er das Leben genießt. Besonders gefällt mir das Ende, als sich die beiden wiedersehen, Martin sich für seine Kirche entschuldigt und die Marien-Figur noch dort ist. Wunderbar der letzte Satz. Er macht den Text rund.


Geschichten schreiben ist wie zaubern!
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zuletzt bearbeitet 17.04.2023 23:58 | nach oben springen

#7

RE: On the Road - Die Wanderschaft der Brüder im Geiste Thomas und Martin

in Archiv 18.04.2023 12:13
von -jek • Federlibelle | 711 Beiträge | 2145 Punkte

@Yggdrasil Manchmal heißt Lieben Loslassen, auch wenn es für beide Seiten schmerzhaft sein kann. Deine Geschichte über eine Vater-Sohn-Beziehung arbeitet das sehr schön heraus. Beim historischen Hintergrund könntest du gerne ein zweites Mal hinsehen. Thomas´Zweifel an gewaltsamer Glaubensverbreitung könntest du vielleicht ersetzen durch Zweifel an solchem Fanatismus und solcher Engstirnigkeit, wie sie z.B. dem "heiligen" Bonifatius in seinem Wüten gegen verheiratete Priester nachgesagt werden.


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Wenn du Schreibregeln beherrscht, ist das gut. Wenn sie dich beherrschen, ist das schlecht.
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#8

RE: On the Road - Die Wanderschaft der Brüder im Geiste Thomas und Martin

in Archiv 22.04.2023 21:27
von Sabrina Meinen • Federlibelle | 569 Beiträge | 1677 Punkte

@Yggdrasil: Mir gefällt die Szene in der Thomas versucht der Figur die Zweifel zu nehmen sehr gut.


Finde den Mut für die Veränderung, die du dir wünscht,
die Kraft, es durchzuziehen
und den Glauben daran, dass sich alles zum Besten wenden wird.
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#9

RE: On the Road - Die Wanderschaft der Brüder im Geiste Thomas und Martin

in Archiv 10.05.2023 18:47
von Michael Kothe • Fleißbiene / Fleißdrohne | 137 Beiträge | 203 Punkte

@Yggdrasil,
Dein "Road Movie" fällt aus dem Rahmen und macht es dadurch einzigartig. Eine ergreifende Geschichte mit historischem Hintergrund. Ernsthaft und tiefgreifend. Nachdenklich machend und am Ende versöhnend. Wenn auch mehr ein "Tell" als ein "Show", so doch ein Text, der den Leser einfängt und mitnimmt. Gut geschrieben!
LG. Michael


Krimis, Stories, Fantasy - in drei Welten unterwegs.
Michael Kothe: Rentner, Autor und Buchverbesserer
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#10

RE: On the Road - Die Wanderschaft der Brüder im Geiste Thomas und Martin

in Archiv 25.05.2023 21:21
von Jana88 • Federlibelle | 564 Beiträge | 1302 Punkte

Lieber ygg,
er war die ganze Zeit nicht allein, das gefällt mir total gut.

Eine schöne Geschichte.


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Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende *Oscar Wilde
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