#1

ON THE ROAD - Die Kunst des Lebens

in Archiv 06.04.2023 13:21
von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte

Die Kunst des Lebens von Herbert Glaser

Jan hatte seinen alten VW-Bus auf dem Seitenstreifen geparkt und sah zu einem Mann in Anzug und Krawatte, der auf der anderen Straßenseite mit einem Smartphone neben seinem Auto stand. „Probleme?“
Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. „Kein Empfang.“
Jan stieg aus und streckte sich ausgiebig. Sein narbiges Gesicht war ein Mosaik aus Furchen und Schatten und erinnerte an die Oberfläche eines atmosphärelosen Mondes, der über Äonen hinweg von Mikrometeoriten bombardiert worden war. Seine Haut wettergegerbt, das beneidenswert dichte Haar schwarz wie Kohlenstaub, mit Spuren von Asche an den Schläfen. Zu einer abgewetzten Lederjeans trug er ein einfarbiges T-Shirt. Er überquerte die Fahrbahn. „Außerhalb der Ortschaften kriegst du hier kein Netz. Wo fehlt`s denn?“
Der Fremde deutete zum Auto. „Hab `nen Platten.“
Jan nickte verstehend. „Ersatzreifen?“
Der Pechvogel schüttelte den Kopf. „Nicht bei diesem Modell. Hat man eingespart, wegen angeblicher Benzinersparnis. Na vielen Dank auch.“ Er war ein Mann, dessen kahler Kopf wie ein poliertes Ei glänzte. Völlig unbehaart und nicht einmal Augenbrauen oder Wimpern, wodurch er einerseits wie ein Baby und andererseits wie eine Schildkröte aussah. Sein Hals eingeschnürt von einer eng gebundenen, dunkelblauen Krawatte.
„Wohl auf Geschäftsreise?“
„Ja, ich muss zu einem dringenden Termin nach Lansing. Ein ganz wichtiger Kunde. Mein Chef macht mir wahnsinnigen Druck deswegen. Und nun Das! Es sind nur noch neun Kilometer und in einer Stunde ist das Treffen. Aber ohne Empfang kein Pannendienst.“
„Heute ist dein Glückstag. Ich nehm` dich mit, wenn du willst. Muss in dem Ort auch was erledigen. Ich bin übrigens Jan.“
„Für Sie Weber. Danke für das Angebot!“
„Kein Ding, Mann. Steig ein.“
Weber schnappte sich eine Aktenmappe vom Rücksitz, verriegelte die Türen und wandte sich zu Jans VW-Bus um. Mit offenem Mund blieb er stehen. „In diese Klapperkiste soll ich einsteigen?“
„Na, immerhin fährt er um hundert Prozent besser als deiner.“
Kopfschüttelnd ging Weber zur Beifahrertüre. „Warum ist der Wagen eigentlich so vollgeschmiert? Sind wohl ein Künstler oder sowas?“
„Steigst du nun ein, oder willst du die neun Kilometer zu Fuß gehen?“
Weber hievte sich umständlich auf den Beifahrersitz und versuchte, mit der linken Hand etwas hinter seiner rechten Schulter zu ertasten.
„Ist `n Oldtimer, hat keinen Gurt.“
Weber schlug die Hände vor das Gesicht. „Auch das noch. Bitte fahren Sie vorsichtig!“
„Na klar doch.“ Jan fingerte eine Selbstgedrehte aus einem Fach und rauchte mit der selbstverständlichen Überzeugung eines Mannes, der als Erster erfahren hat, dass die Wissenschaft die ganze Zeit danebenlag, dass in Wirklichkeit das ganze Nikotin und der Teer und die Pestizide noch nie einer Menschenseele auch nur im Geringsten geschadet haben.
„Wieso riecht das so süßlich? Das ist doch ein Joint, oder? Ist das überhaupt erlaubt?“ Panisch kurbelte er das schwergängige Seitenfenster herunter und hielt die Nase nach draußen.
„Mach dich mal locker, Mann. Ist nur für den Eigenbedarf, wenn du weißt, was ich meine. Für dich auch einen?“
Weber wedelte ablehnend mit beiden Händen.
Jan startete den Motor, was nach dem vierten Versuch auch tatsächlich gelang, legte krachend den ersten Gang ein und fuhr los.
Weber krallte sich an irgendetwas fest und schloss die Augen. Nach einigen gemütlich zurückgelegten Kilometern fasste er sich wieder und betrachtete die Umgebung. Graue Wolken zeigten keinerlei Bereitschaft, Sonnenstrahlen durchzulassen. „Was müssen Sie eigentlich in Lansing erledigen?“
Jan blies eine weitere süße Wolke aus. „Da findet morgen einen Straßenmarkt statt. Vielleicht kann ich ein paar Bilder verkaufen.“
„Also doch ein Künstler?“ Er runzelte die Stirn. Bei seinem kahlen Schädel ging das Runzeln ziemlich weit hinauf. “Ich könnte so nicht leben.“
Jan zuckte mit den Schultern und schnippte die Kippe aus dem Fenster. „Mir sitzt zumindest kein Chef im Nacken.“
Wenige Minuten später tauchte das Ortsschild auf. Weber nahm erwartungsvoll sein Smartphone zur Hand. „Endlich wieder Empfang.“ Er scrollte durch die Menüs und tippte auf eine Nachricht. Dann starrte er mit heruntergeklapptem Kiefer ins Leere.
„Alles in Ordnung, Mann? Wir sind gleich da, du kommst auf jeden Fall rechtzeitig zu deinem Termin.“
Weber steckte das Telefon weg. Sein Gesicht sah aus wie gekalkte Wand. „Hat sich erledigt.“
„Warum das auf einmal?“
„Der Klient hat abgesagt. Mein Angebot war ihm nicht attraktiv genug. Jetzt geht er zur Konkurrenz. So ein Mist!“ Mit ausdruckslosem Gesicht sah er zu Jan. Kurz hinter dem Ortsschild parkte der den Bus.
„Nimm`s nicht tragisch, du hast doch sicher noch mehr Kunden.“

Weber gönnte sich einen kurzen Augenblick des Selbstmitleids. „War leider mein einziger Termin in dieser Woche. Ich bin so gut wie gefeuert. Und wenn ich keinen Job mehr habe, wird meine Frau mich endgültig verlassen. Unsere Ehe hat sowieso nur noch funktioniert, weil ich dauernd unterwegs war. Damit ist es jetzt wohl vorbei. Mein Leben ist dann ungefähr so interessant wie Staub auf einem Schrank.” Er spie die letzten Worte förmlich hervor.
Jan zog die Brauen zusammen. „Wer wird denn gleich so schwarz sehen?“ Er deutete auf das Fach mit den Selbstgedrehten. „Vielleicht doch eine Tüte?“
„Warum nicht“, hörte Weber sich selbst sagen. „Ist auch schon egal.“
Mit jedem Zug wurde er lockerer. Er öffnete den obersten Hemdknopf und nahm die Krawatte ab. Der innere Druck strömte aus ihm heraus wie aus einem zu stark aufgepumpten Reifen. „Ich bin übrigens Ralf. danke, dass du mich mitgenommen hast.“
„Kein Ding, Mann. Wenn du willst, dann besorgen wir in der nächsten Werkstatt einen passenden Reifen, fahren zu deinem Wagen und wechseln das Ding. Dann bist du gleich wieder mobil.“
Ralf winkte ab. Dann nahm er einen weiteren tiefen Zug und sah Jan erwartungsvoll in die Augen. „Zeigst du mir erst deine Gemälde?"


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zuletzt bearbeitet 07.04.2023 12:10 | nach oben springen

#2

RE: ON THE ROAD - Die Kunst des Lebens

in Archiv 07.04.2023 12:16
von Bree • Federlibelle | 4.337 Beiträge | 17414 Punkte

Lieber @Herbert Glaser

ich würde sagen, du hast die Aufgabe ganz hervorragend gelöst. Zwei sehr unterschiedliche Männer, die sich zufällig begegnen, und einer von ihnen stellt am Ende der Fahrt sein ganzes Leben in Frage, öffnet sich für Neues.
Ich habe die Geschichte sehr gern gelesen. Einzig die auktoriale Perspektive - die ja bekanntlich nicht so meins ist - hat mich ein wenig gestört, und ich dachte darüber nach, wessen personale Sicht ich gewählt hätte. Vermutlich die von Weber, aus dessen Perspektive du ja am Ende schreibst, nachdem du zunächst bei Jan warst.

Wie auch immer, ich mag die Story. Sie hätte für mich gern noch länger sein dürfen, denn ich hatte noch keine Lust, aus dem VW-Bus "auszusteigen".

Top!

LG
Bree


Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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Alles über meine Bücher & mich findet ihr auf meiner Website: www.brittabendixen.de
Einen eigenen Youtube-Kanal habe ich auch. Dort lese ich einige meine Geschichten.
Den Button findet ihr auf meinem Profil.
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#3

RE: ON THE ROAD - Die Kunst des Lebens

in Archiv 07.04.2023 13:08
von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte

Vielen Dank, liebe Britta.

Und natürlich frohe Ostern.

Herbert


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#4

RE: ON THE ROAD - Die Kunst des Lebens

in Archiv 11.04.2023 22:21
von Anka • Federlibelle | 756 Beiträge | 3343 Punkte

Lieber @Herbert Gläser,
auch mich hast du sofort mitgenommen in dem alten beschmierten VW Bus und diesen zwei so unterschiedlichen Typen.
Besonders gefallen hat mir die Beschreibung der beiden - speziell die von Weber mit dem kahlen Kopf und dem Vergleich mit der Schildkröte. Und schön, wie er sich am Ende befreit, nicht nur von der Krawatte. Sehr gern gelesen! Ich konnte alles wie in einem Film vor mir sehen.
LG von Anka


Geschichten schreiben ist wie zaubern!
www.writeandride.de
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#5

RE: ON THE ROAD - Die Kunst des Lebens

in Archiv 12.04.2023 11:20
von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte

Besten Dank!


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#6

RE: ON THE ROAD - Die Kunst des Lebens

in Archiv 12.04.2023 12:25
von -jek • Federlibelle | 711 Beiträge | 2145 Punkte

@Herbert Glaser Es gibt eine Menge Webers, denen ich einen Jan wünschen würde, um sie lockerer zu machen. Ich sage es mal so: Du hast pünktlich zum Gründonnerstag (ich habe im Kalender nachgeschlagen) eine herzerwärmende österliche Wiederauferstehungsgeschichte geschrieben.


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Wenn du Schreibregeln beherrscht, ist das gut. Wenn sie dich beherrschen, ist das schlecht.
Bree findet das Top
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#7

RE: ON THE ROAD - Die Kunst des Lebens

in Archiv 13.04.2023 12:55
von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte

So kann man das natürlich auch sehen.

Danke und viele Grüße

Herbert


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#8

RE: ON THE ROAD - Die Kunst des Lebens

in Archiv 22.04.2023 21:17
von Sabrina Meinen • Federlibelle | 569 Beiträge | 1677 Punkte

Hallo Herbert, ich finde ebenso die Geschichte darf weiter gehen. Es ist als kommt noch mehr. Vielleicht kann sie zu einem Auftakt für etwas größeres werden.


Finde den Mut für die Veränderung, die du dir wünscht,
die Kraft, es durchzuziehen
und den Glauben daran, dass sich alles zum Besten wenden wird.
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#9

RE: ON THE ROAD - Die Kunst des Lebens

in Archiv 23.04.2023 20:00
von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.151 Beiträge | 9415 Punkte

Lieber @Herbert Glaser. das ist eine super Geschichte. Schon auch ein wenig bitter-melancholisch, wie der Geschäftsmann am Ende von seinem hohen Ross runtersteigen muss. Aber er macht das gut und wird schnell einsichtig.
Ein besonderes Plus von mir für die optische Beschreibung der 2 Männer . Die konnte ich richtig vor mir shene, bisschen wie aus einem Comic!
Viele Grüße
Carlotta Lila


https://www.leseflamme.jimdofree.com

Unsere größte Schwäche liegt im Aufgeben. Der sicherste Weg zum Erfolg ist immer, es noch einmal zu versuchen.
Thomas Alva Edison
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#10

RE: ON THE ROAD - Die Kunst des Lebens

in Archiv 08.05.2023 20:20
von moriazwo • Federlibelle | 314 Beiträge | 1139 Punkte

Eine coole kleine Geschichte! Ich wollte sie anfangs nur mal überfliegen, tauchte dann aber ein und musste sie komplett - und richtig - lesen. Kopfkino hat gut funktioniert. Und vor allem: Die beschriebene Situation kann man sich auch in der Realität gut vorstellen.Gerne gelesen ...


_______________________________________________________________
Life, as You know it, is just a beta-version. Otherwise You would have received a manual.
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#11

RE: ON THE ROAD - Die Kunst des Lebens

in Archiv 10.05.2023 18:20
von Michael Kothe • Fleißbiene / Fleißdrohne | 137 Beiträge | 203 Punkte

Show, don't tell!

Lieber @Herbert Glaser,
das ist Dir hervorragende gelungen. Sofort habe ich mir ein Bild von den beiden gemacht. Jüngerer Althippy trifft älteren Yuppie. Klasse! Bin ja von Dir schon einiges gewöhnt, aber diese Road Story begeistert mich vollkommen. Wie bei Dir üblich, eine ganz normale Notsituation, die ja leicht zu beheben ist, und dann unverhofft ein Gänsehautmoment, als eine Welt in sich zusammenfällt. Natürlich dann eine entspannende Auflösung.
LG. Michael


Krimis, Stories, Fantasy - in drei Welten unterwegs.
Michael Kothe: Rentner, Autor und Buchverbesserer
https://autor-michael-kothe.jimdofree.com/
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#12

RE: ON THE ROAD - Die Kunst des Lebens

in Archiv 10.05.2023 19:50
von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte

Hallo Sabrina, Carlotta und (2x) Michael,

herzlichen Dank für eure positiven Kommentare.

Freut mich, dass ich euch auf die Reise mitnehmen konnte!

Viele Grüße

Herbert


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#13

RE: ON THE ROAD - Die Kunst des Lebens

in Archiv 27.05.2023 20:43
von Jana88 • Federlibelle | 564 Beiträge | 1302 Punkte

So richtig toll das Thema getroffen, wie ich finde.
Unterschiedlicher können die beiden ja gar nicht sein, und doch am Ende ziemlich ähnlich, und verstehen sich gut.
Ich mag es, wie der eingebildete Schnösel dann doch den Joint nimmt und wohl etwas auf den Boden der Tatsachen zurückkommt.


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Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende *Oscar Wilde
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