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SGZ 6/23 Sehnsucht
in Die Geschichten der Woche 08.02.2023 10:04von Sabrina Meinen • Federlibelle | 586 Beiträge | 1727 Punkte
Sie sieht aus dem Fenster. Müde. Abgeschlagen. Erschöpft. Dumpf. All diese Worte bezeichnen sie.
Unter normalen Umständen, würde sie einen Anruf erhalten haben. Hätte er gesagt, dass er auf dem Weg nach Hause ist. Aber das macht er nicht mehr. Wie schon seit vielen Tagen.
Der Anruf war ihre Sicherheit. Half ihr zu planen. Gab ihr Zeit für Vorbereitungen. All das ist unnötig geworden. Denn er wird nicht mehr anrufen. Niemals.
Ihre Augen erfassen die Straße. Den rauen Belag. Sämtliche Unebenheiten, die ihr die kurze Distanz zeigen. Dann schwenken ihre Augen auf das Fenster um. Es ist dreckig. Schreit seit Monaten nach einer Säuberungsaktion.
Auch das Fensterbrett möchte gesäubert werden. Seit langem gibt es diesen Teefleck. Er hat ihn verursacht. Na ja, sein Pfefferminztee war der Schuldige. Wenn er Tee trank, dann nur diesen. Alles im gleichen Ritual. Frühmorgens kochte sie für beide Wasser. Eine Tasse füllte sie mit einem Beutel Pfefferminz und für sich selbst eine andere mit Chai Latte. Seine Teetasse stellte sie immer an die gleiche Stelle auf dem Fensterbrett. Zum Abkühlen. Noch nie hat er warmen Pfefferminztee getrunken. Jedes mal ließ er ihn kalt werden.
Der letzte Pfeffi hinterließ einen Teetassenabdruck. Bis heute ist der Fleck an der gleichen Stelle. Unverändert. Keiner interessierte sich für den Teefleck. So blieb er über Nacht, den nächsten Morgen, den nächsten Abend...
Hätte sie geahnt, dass sie ihm die letzte Teetasse gekocht hätte, hätte sie niemals mehr eine gekocht. Vielleicht hätte sie das kommende vermeiden können. Immerhin wäre es eine Chance gewesen, dem Schicksal zu entgehen.
Fies sticht ein unsichtbares Messer in ihr Herz. Eine kräftige Faust drückt es zusammen. Endlich weicht die Dumpfheit der letzten Tage. Doch mit der Stärke von anderen Gefühlen hat sie kaum gerechnet. Natürlich wollte sie wieder etwas fühlen. Raus aus der Lethargie. Weg von der Müdigkeit. Aber nicht so. Wie soll sie das ertragen? Muss Sehnsucht derartig schmerzhaft sein?
Tief atmend versucht sie, die unangenehmen Gefühle los zu werden. Befasst sich wieder mit dem Teefleck. Hat es sich verändert? Ist irgendwas an ihm anders geworden? Wie jeden Tag sieht es stumpf zu ihr auf. Plötzlich kullern Tränen über ihre Wangen. Wann hatte sie das letzte Mal geweint? An Tag X? Nein. Denn an diesem Tag schaltete sie sich selbst in den Standby.
Zuerst fallen einige Tropfen neben das Fleck. Bilden eine kleine Pfütze. Weitere Tränen vergrößern sie. Bald erfassen sie den Teetassenfleck. Fließen über ihn. Versuchen ihn vom Brett zu lösen.
Nein! Das darf nicht passieren! Er soll bei ihr bleiben. Schließlich ist er eine Erinnerung. Ein Relikt. Nichts und niemand darf es zerstören. Aber wie kann sie ihn retten? Was kann sie machen? Verzweifelt greift sie nach der Küchenrolle. Saugt das salzige Wasser auf. Gerettet. Der größte Teil bleibt ihr erhalten.
Seufzend sieht sie auf die Küchenrolle. Spürt die unebene Oberfläche an ihrer rechten Handinnenseite. Jede einzelne Vertiefung. Punktartige Vertiefungen, die ein sich wiederholendes Muster bilden. Blatt für Blatt.
„Mami!? Wann kommt Papa?!“ Eine zarte Kinderstimme fordert ihre Aufmerksamkeit.
Mit rotgeflecktem Gesicht sieht sie zu ihrem Sohn. Seine Frage verwandelt sich in ein Tuch. Ein Tuch, dass sich um ihren Hals legt und enger wird. Immer enger bis es ihre Kehle zuschnürt.
Kopfschüttelnd sieht sie ihren fünfjährigen Sohn an. Auch ihn hat der Tag X verändert. Alles was er an Erinnerungen abrufen kann, bezieht sich auf die Zeit vor Tag X. Ständig fragt er nach Papa, weil sein junges Gehirn sich weigert, die Tatsachen zu akzeptieren.
Und sie? Sie schafft es nicht ihm zu helfen. Lehnt fremde Hilfe ab. Weist alle Menschen von sich. Stellt sich lieber ans Fenster und bildet sich ein, ihr Mann würde bald anrufen und nach Hause kommen.
Darum dreht sie sich wieder zum Fenster hin. Fragt sich in Gedanken: „Müsste er nicht bald nach Hause kommen?“
Langsam lehnt sie ihre Stirn an die Fensterscheibe. Kälte geht vom Glas auf ihre Haut über. Holt sie in das Hier und Jetzt zurück.
Es ist Zeit, die Sache anzugehen. Zu akzeptieren. Er hätte es gewollt. Würde laut mit ihr schimpfen, wenn er sie sehen könnte. Vielleicht kann er das?
„Mein kleiner Liebling.“ Sie schließt ihren Sohn in ihre Arme. „Dein Papa wird nicht mehr zu uns nach Hause kommen. Aber wir können ihn besuchen. Möchtest du das?“
Große Kinderaugen sehen in ihr Gesicht, prüfen ihre Worte. Sind sich unsicher was sie meint. Dann ein zögerliches Nicken: „Ja.“
Sanft nimmt sie seine Kinderhand. Greift den Autoschlüssel. Setzt ihren Sohn in seinen Kindersitz.
Minuten später hält sie mit dem Auto an. Hilft ihrem Kind beim Aussteigen. Trägt ihn etliche Meter auf dem Arm. Schließlich bleibt sie stehen.
„Hallo mein Schatz. Es ist schrecklich ohne dich. Das Leben ist so schwer.“ Wieder rasen ihr Tränen über ihre Wangen. Hinterlassen eine rote Spur und tropfen auf grauen kalten Stein.
Finde den Mut für die Veränderung, die du dir wünscht,
die Kraft, es durchzuziehen
und den Glauben daran, dass sich alles zum Besten wenden wird.
RE: SGZ 6/23 Sehnsucht
in Die Geschichten der Woche 08.02.2023 10:28von Yggdrasil • Federlibelle | 1.275 Beiträge | 3250 Punkte
@Sabrina Meinen Ein Text mit Tiefgang, sehr gefühlvoll geschrieben. Wie immer grenzen diese Texte an der Kitschgrenze, bitte nicht böse sein über die Formulierung. Gern gelesen ...
RE: SGZ 6/23 Sehnsucht
in Die Geschichten der Woche 08.02.2023 10:51von Sabrina Meinen • Federlibelle | 586 Beiträge | 1727 Punkte
@Yggdrasil: danke für dein Kommentar. Keine Sorge, ich bin nicht böse. Ist sicherlich eine Geschmackssache. Vielleicht eher etwas für Frauen?
Das SGZ-Thema ist für mich ein Wort, dass mit starken Gefühlen verbunden ist. Und die wollten in den Text hinein,
Finde den Mut für die Veränderung, die du dir wünscht,
die Kraft, es durchzuziehen
und den Glauben daran, dass sich alles zum Besten wenden wird.
RE: SGZ 6/23 Sehnsucht
in Die Geschichten der Woche 08.02.2023 13:01von Gini • Federlibelle | 1.819 Beiträge | 3745 Punkte
@Sabrina Meinen sehr traurig, überhaupt nicht kitschig für mich. Ich mag solche dramatischen Geschichten.
Ich finde du hast es sehr schön und mit starken Gefühlen geschrieben.
Ich habe mitgelitten. Wie furchtbar muss es auch sein, seinem Kind so etwas erklären zu müssen.
Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.
Wilhelm Busch (1832-1908)
RE: SGZ 6/23 Sehnsucht
in Die Geschichten der Woche 08.02.2023 13:51von Yggdrasil • Federlibelle | 1.275 Beiträge | 3250 Punkte
@Sabrina Meinen Auf jeden Fall Geschmackssache. Auch ich habe hier schon Texte eingestellt, die ich selber für mich als kitschig beschreiben würde, kein Problem
RE: SGZ 6/23 Sehnsucht
in Die Geschichten der Woche 08.02.2023 15:16von Bree • Federlibelle | 4.576 Beiträge | 18697 Punkte
Liebe @Sabrina Meinen
wunderbar! Als Kitsch würde ich diesen Text nicht beschreiben, sondern als sehr emotional. Ich habe Mitleid empfunden für diese arme Frau, die viel zu früh ihren Mann verlor, und für den Sohn, der seinen Vater nicht mehr hat. Besonders schön fand ich die Stelle mit dem Tuch, das sich um ihren Hals legt. Ein sehr eindrückliches Bild.
Prima auch, dass sie sich vornimmt, gegen die tiefe Trauer anzugehen, nicht in ihr zu versinken. Sie muss jetzt stark sein für ihren Sohn.
Und das wird ihr klar.
Ich wiederhole mich: Wunderbar!
LG
Bree
Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)
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Alles über meine Bücher & mich findet ihr auf meiner Website: www.brittabendixen.de
Einen eigenen Youtube-Kanal habe ich auch. Dort lese ich einige meine Geschichten.
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RE: SGZ 6/23 Sehnsucht
in Die Geschichten der Woche 08.02.2023 16:17von Sabrina Meinen • Federlibelle | 586 Beiträge | 1727 Punkte
RE: SGZ 6/23 Sehnsucht
in Die Geschichten der Woche 08.02.2023 16:43von Yggdrasil • Federlibelle | 1.275 Beiträge | 3250 Punkte
@Sabrina Meinen Okay, ich habe mir die Bedeutung von Kitsch genauer angesehen. So war das von mir nicht gemeint (minderwertig), sondern stark sentimental, emotional. Aber ich hatte im Eingangspost schon gesagt:: bitte nicht böse sein!
RE: SGZ 6/23 Sehnsucht
in Die Geschichten der Woche 08.02.2023 17:30von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.290 Beiträge | 10212 Punkte
Liebe @Sabrina Meinen, dein Text ist sehr berührend. Du bremst die Zeit und hältst minutiös alle Gefühle und Beochachtunden fest, dann geht es weiter. Das Kind unterbricht die "Agonie" und die Handlung bewegt sich weiter. Tpll erzählt, genau die richtige Länge.
Viele Grüße
Carlotta Lila 💜
https://www.leseflamme.jimdofree.com
Unsere größte Schwäche liegt im Aufgeben. Der sicherste Weg zum Erfolg ist immer, es noch einmal zu versuchen.
Thomas Alva Edison
RE: SGZ 6/23 Sehnsucht
in Die Geschichten der Woche 11.02.2023 15:13von Doro • Federlibelle | 2.482 Beiträge | 9750 Punkte
Hallo @Sabrina Meinen ,
ein sehr emotionaler Text. Gut, dass sie ihren Sohn hat. Kinder lenken ab. Als meine Mutter gestorben ist, war ich 28. Meine Schwester hatte bereits ein Kind und meine Nichte war bei der Beerdigung dabei. Ich war mir nicht sicher, ob es für die Kleine das Beste war, aber für uns ganz bestimmt.
Zitat von Sabrina Meinen im Beitrag #1Und zack ist da der Blick zu meinen Scheiben und das schlechte Gewissen ist da.
Schreit seit Monaten nach einer Säuberungsaktion.
Zitat von Sabrina Meinen im Beitrag #1Ich kann zwar verstehen, dass sie das sagt, aber in Gegenwart ihres Kindes erscheint es mir nicht richtig. Kleine Kinder können solchen Sätze nicht einordnen, nehmen sie wörtlich.
„Hallo mein Schatz. Es ist schrecklich ohne dich. Das Leben ist so schwer.“
Zitat von Sabrina Meinen im Beitrag #1Warum eine rote Spur? Ich stehe wohl gerade auf dem Schlauch.
Hinterlassen eine rote Spur und tropfen auf grauen kalten Stein.
Gern gelesen.
LG
Doro
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)
RE: SGZ 6/23 Sehnsucht
in Die Geschichten der Woche 11.02.2023 20:06von Sabrina Meinen • Federlibelle | 586 Beiträge | 1727 Punkte
@Doro
Ja, die Aussagen der Mutter sind im Beisein des Kindes sehr hart. Aber passieren am laufenden Band, wenn auch in anderer Form (wie "Womit habe ich euch nur verdient?!" oder "Ihr könnt froh sein, eine Mutter wie mich zu haben" oder "hättest du dich mal mehr angestrengt, wäre eine eins drinnen gewesen." oder "So ist das Leben." oder "das mussten wir alle lernen!" ...)
Ich erlebe es in der Therapie von Eltern und in meinem privaten Alltag durch andere Eltern. Eine Mama, die von ihrem Kind angespuckt und es ebenfalls anspuckt damit es lernt, das Spucken blöd ist.
Mit der roten Spur meine ich Heulflecken. Ich kenne sie von mir. Bei mir rötet sich meine Haut, wo meine Tränen lang laufen.
Grüße
Finde den Mut für die Veränderung, die du dir wünscht,
die Kraft, es durchzuziehen
und den Glauben daran, dass sich alles zum Besten wenden wird.
RE: SGZ 6/23 Sehnsucht
in Die Geschichten der Woche 11.02.2023 21:09von Jana88 • Federlibelle | 573 Beiträge | 1320 Punkte
Oh weia, es war schon schwer, meine damals 5jährigen zu erklären, dass Opa tot ist. Bis heute, eineinhalb Jahre später, ist sie oft wütend und weint viel, weil sie Opa vermisst. Sie brüllt und sackt dann förmlich in sich zusammen, weil alles so unfair ist.
Aber den Vater in dem Alter zu verlieren...
Sehr gefühlvoll geschrieben, ich war mittendrin und habe mitgelitten.
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Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende *Oscar Wilde
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