#1

WURMLOCH - Claudios Schatten

in Archiv 15.06.2022 23:31
von Anka • Federlibelle | 756 Beiträge | 3343 Punkte

Claudio hängt in dreißig Metern Höhe an einem Stahlseil. Eigentlich hängt nicht er an dem Seil, sondern der Alfa Romeo. Am Ausleger eines Autokrans pendelt der Wagen über dem Showgelände. Alle Augen sind nach oben gerichtet. Claudio ist Stuntman in vierter Generation und weiß, was auf ihn zukommt. Er trägt einen Helm, dazu dicke schwarze Schutzkleidung. Spezialgurte halten ihn am Sitz. In ein paar Minuten wird Roberto unten auf den Auslöser drücken und der Alfa Romeo stürzt in die Tiefe. Zusammen mit ihm.


Das war nicht immer so. Ursprünglich hatte die Nummer harmlos begonnen. Ein cooles Auto schwebt über den Köpfen der Menschen und dann zack! Absturz. Doch bald wollte das Publikum mehr Nervenkitzel. Claudio war gerade volljährig, als er das erste Mal in das Auto kletterte. Inzwischen tut er das seit fünfzehn Jahren und hat sich nie ernsthaft verletzt. Abgesehen von ein paar Rippenprellungen. Das gehört zum Job. Auch zum Job gehört, dass die Darbietungen immer spektakulärer werden. Anfangs liebte er das. Er war der Held. Doch inzwischen hat sich eine Müdigkeit in ihm ausgebreitet, gegen die er kaum noch ankommt. Als Onkel Paulo die Auffangbehälter an der Absturzstelle gegen einen Berg Karosserien austauscht, nimmt Claudio das einfach so hin. Wird schon schiefgehen. Er hängt in dreißig Metern Höhe im Auto und hat keinen Bock mehr. Spürt die Leere in sich und überlegt, die Gurte zu öffnen. Aus dem Auto fallen und klatsch! Ende der Veranstaltung. Für immer.


Belinda steht unten am Mikro und lässt den Blick nicht von Claudio. Ihre Wangen sind gerötet als sie ihn ansagt und auf die Gefährlichkeit der Nummer hinweist. Dann Stille. Claudio hat die Hand am Gurtverschluss. Atmet noch einmal tief ein. Spürt die Anspannung der Zuschauer. Diese Stille ist das Schlimmste. Kein Laut ist zu hören. Als hätte die Welt aufgehört zu existieren. Dann ein kleines metallisches Klicken am Heck. Verstärkt durch die Boxen im Showgelände. Der Alfa stürzt mit dem Motor voran. Die Massen schreien auf. Claudio wird in den Sitz gepresst und kracht mit Getöse in die bereitstehenden Schrottautos. Es wird schwarz um ihn. Finito.


Als Claudio die Augen öffnet, bleibt alles schwarz. Er spürt seinen Körper nicht mehr. Aber er spürt, dass er nicht allein ist. Jemand ist bei ihm. Ist ihm sehr nah.
„Ich fasse es nicht“, ruft eine erstaunte Stimme. „Es hat tatsächlich geklappt!“
Claudio versucht sich zu bewegen. Seine Arme und Beine gehorchen ihm nicht.
„Bin ich tot?“, fragt er und realisiert zwei Dinge: Er atmet nicht mehr, aber er kann sprechen.
„Du dämlicher Hund!“, schimpft die Stimme. „Wolltest du dich tatsächlich umbringen?“
„Nein, ich …“ Mit wem redet er hier? „… habe nur kurz daran gedacht. Wo bin ich?“
„In meiner Welt. Es ist mir endlich gelungen, dich hierherzuholen. Mein Name ist Dio. Ich bin dein Schatten.“
Nun ist Claudio alles klar. Da will ihn jemand verarschen.
„Mach Licht!“, befiehlt er ungehalten.
„Bist du sicher, dass du schon bereit dafür bist?“
„Mach Licht!“
Ein Scheinwerfer geht an und beleuchtet den Rücken eines vor ihm stehenden Mannes. Claudio sieht nur seine Silhouette und registriert, dass er zu Füßen des Mannes auf dem Boden liegt. Er hat keinen Körper mehr. Auch er ist nur eine Silhouette.
„Was zum Teufel soll das?“, braust er auf. Er kann sich immer noch nicht bewegen.
„Rollentausch“, antwortet der Mann und es hört sich an, als ob er grinst. „Jetzt bin ich der Chef und du musst mir folgen. Als mein Schatten.“
„Hör sofort auf mit diesem Unsinn!“ Zu gern würde Claudio diesem Möchte-gern-Zauberer eine reinhauen. Stattdessen hebt der Kerl im Licht seine Hand und winkt.
Ohne es beeinflussen zu können, hebt sich im selben Moment auch Claudios Hand und winkt. Er ist tatsächlich die körperlose Marionette dieses Spinners.
„Nun siehst du, wie das ist.“, sagt dieser zufrieden. „Bisher musste ich alles tun, was du machst. Auch wenn es noch so lebensmüde war. Ich will das nicht mehr. Außerdem habe ich Höhenangst.“
Claudios Gedanken fahren Achterbahn. Kein Scherz! Nur ein Hirngespinst. Vielleicht liegt er gerade im Koma und träumt.
„Ich werde dir meine Welt zeigen“, sagt der Schattenmann und geht los.
Claudio kann nicht anders, er muss ihm folgen. Wird willenlos hinterhergeschliffen. Stellt entsetzt fest, dass seine körperlose Silhouette erst kurz und dick ist und dann lang und schmal wird, je weiter sie sich vom Scheinwerfer entfernen. Wie eine Fata Morgana taucht aus dem Dunkel ein bunt bemaltes, eiförmiges Haus vor ihnen auf, das über einer Wiese mit sonderbaren Blumen schwebt. Im nächsten Moment befinden sie sich auf dieser Wiese unter einem violetten Himmel von dem fünf Sonnen in unterschiedlichen Farben strahlen. Claudio hat das Gefühl überall und nirgends zu sein. Hier kann er den Typen, dem er folgt, endlich genauer betrachten. Er sieht ihm wirklich zum Verwechseln ähnlich, allerdings trägt er ein schreiend buntes Hemd, auf dem Schmetterlinge und Vögel umherflattern.
„Du willst mein Schatten sein?“, fragt Claudio argwöhnisch. „Du bist viel zu bunt. Außerdem würde ich nie so ein Hemd anziehen!“
„Ich weiß.“ Dio grinst. „Deine Welt ist schwarz und schmutzig. Voller Schrottautos und Altöl. Deshalb habe ich mir hier eine Oase geschaffen, in die ich mich zurückziehen kann, wenn du schläfst.“
„Wenn ich schlafe?“
„Dann muss ich dir nicht folgen. Ich habe alles, was du hier siehst mit meiner Fantasie erschaffen.“
Claudio ist beeindruckt. Besonders von dem fliegenden Haus. In seiner offenen Tür erscheint eine Frau mit dunklen Augen und schwarzem Haar. Sie bewegt sich wie in Trance, rollt eine Strickleiter aus und beginnt langsam daran hinunter zu steigen.
„Belinda!“, ruft Claudio. „Wieso bist du hier? Du warst gerade noch auf dem Showgelände.“
Sie lächelt, setzt sich auf die unterste Stufe und beginnt mit glockenklarer Stimme eine Arie zu singen.
„Sempre Libera“, sagt Dio ergriffen. „Das ist aus ‚La Traviata‘. Schon mal was von Verdi gehört?“
Ja, denkt Claudio. Auto-Verdi Pumps & Rods. Doch das behält er für sich.
Als das Lied zu Ende ist, hebt Dio Belinda von der Leiter und küsst sie. Claudio will es ihm gleichtun, doch die fünf Sonnen haben ihn zerteilt und über der Wiese zerstreut. Er kann sich nicht sammeln.
„Hast du je bemerkt, dass Belinda dich liebt?“, fragt Dio.
Claudio ist verwirrt. Natürlich hat er ihre Blicke gespürt, sich aber nichts dabei gedacht.
„Ihr Traum ist es, Sängerin zu werden“, ergänzt Dio. „Ich habe geschworen, ihr dabei zu helfen.“ Sie halten sich an den Händen und ihre Augen leuchten. Claudio ist irgendwo dazwischen und ihm wird klar, er hat etwas verpasst. Doch vielleicht ist es noch nicht zu spät.

Belinda steht in dreißig Metern Höhe auf dem Autokran. Sie trägt ein rotes Abendkleid und singt. Ihre Stimme schallt über den Platz, alle Augen sind nach oben gerichtet. Am Stahlseil hängt der Alfa Romeo und rittlings darauf sitzt Claudio in seinem Schutzanzug. Er himmelt sie an und singt die letzten Takte im Duett mit ihr. Das Publikum applaudiert stürmisch. Sie verbeugen sich und winken nach unten. Dann setzt Claudio seinen Helm auf und verschwindet im Auto. Belinda wirft ihm eine Kusshand zu und drückt den Auslöser. Der Alfa Romeo saust in die Tiefe. Finito. Ende der Veranstaltung. Und morgen fahren sie gemeinsam in den Urlaub. Belinda mit Claudio … oder Dio? Sie weiß es nicht, denn die Jungs müssen das noch aushandeln.


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#2

RE: WURMLOCH - Claudios Schatten

in Archiv 16.06.2022 10:49
von Bree • Federlibelle | 4.337 Beiträge | 17414 Punkte

Liebe @Anka

das Warten auf deinen Beitrag hat sich wirklich gelohnt, muss ich sagen. Was für eine irre, originelle und tolle Idee! Du malst zwei völlig unterschiedliche Welten und Claudio muss sich mit seinem eigenen Schatten auseinandersetzen. Echt top!
Mehrmals musste ich schmunzeln, z. B. hier:

Zitat von Anka im Beitrag #1
Nun ist Claudio alles klar. Da will ihn jemand verarschen.

Zitat von Anka im Beitrag #1
Schon mal was von Verdi gehört?“
Ja, denkt Claudio. Auto-Verdi Pumps & Rods. Doch das behält er für sich.


Genau die richtige Humordosierung, finde ich.

Zitat von Anka im Beitrag #1
Wird willenlos hinterhergeschliffen.

Ich bin nicht ganz sicher, aber ich glaube, in diesem Kontext passt "hinterhergeschleift" besser.

Der abrupte Schluss ist das Einzige, was mich ein wenig gestört hat, doch vermutlich war dies dem Zeichenkorsett geschuldet.
Vermutlich würde es der Story guttun, wenn du ihn - abseits des Wettbewerbs - noch ein wenig ausschmückst.

Davon abgesehen ein sehr schöner Beitrag. Ich wünsche dir viel Glück!

LG
Bree


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#3

RE: WURMLOCH - Claudios Schatten

in Archiv 16.06.2022 14:11
von Doro • Federlibelle | 2.350 Beiträge | 9189 Punkte

Liebe @Anka ,

eine sehr coole Idee, den Schatten mit dem Körper Platz tauschen zu lassen.

Meine Lieblingsstelle:

Zitat von Anka im Beitrag #1
Außerdem habe ich Höhenangst.


Ein Schatten mit Höhenangst.



Der Schluss kam mir zu abrupt. Da war ich kurz verwirrt. Wie Bree schon vermutet, liegt das wahrscheinlich am Zeichenkorsett. Auch mich würde eine längere Version deines Textes interessieren.

Gern gelesen.


LG
Doro


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#4

RE: WURMLOCH - Claudios Schatten

in Archiv 17.06.2022 11:58
von Gini • Federlibelle | 1.797 Beiträge | 3677 Punkte

@Anka ich muss leider sagen, dass dein Text mich verwirrt. Ich kam überhaupt nicht rein in die Story.
Nicht böse sein. Aber natürlich hast du ihn exzellent geschrieben. Daran lag es auch nicht. Für mich ist er wahrscheinlich zu utopisch und zu spooky. Aber auf jeden Fall sehr originell.
Liebe Grüße


Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.

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#5

RE: WURMLOCH - Claudios Schatten

in Archiv 17.06.2022 21:36
von Jana88 • Federlibelle | 564 Beiträge | 1302 Punkte

Eine richtig coole Geschichte. Ich finde die Idee, mit dem Schatten zu sprechen, richtig klasse.
Ein toller Beitrag.


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Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende *Oscar Wilde
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#6

RE: WURMLOCH - Claudios Schatten

in Archiv 19.06.2022 00:40
von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.151 Beiträge | 9415 Punkte

Liebe @Anka, eine philosophische Geschichte mit völlig surrealen Bildern und atemberaubenden Perspektiven. Stuntman ist ja schon ein ungewöhnlicher Beruf. Aber ein lebensmüder Stuntman, der in die Rolle seines Schattens gedrängt wird, weil er im Leben auch nur wie ein Schatten ist- so habe ich es jedenfalls wahrgenommen-das ist schon eine tolle Idee mit großartiger Umsetzung!
Sehr gerne gelesen!
LG
Calotta Lila


https://www.leseflamme.jimdofree.com

Unsere größte Schwäche liegt im Aufgeben. Der sicherste Weg zum Erfolg ist immer, es noch einmal zu versuchen.
Thomas Alva Edison
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#7

RE: WURMLOCH - Claudios Schatten

in Archiv 23.06.2022 13:22
von -jek • Federlibelle | 711 Beiträge | 2145 Punkte

@Anka Uff, ich muss erst einmal Luft holen. Was für eine irrwitzige Story! Packend und originell, surreal bis in den knappen Schluss hinein. Der entspricht übrigens genau meiner Vorliebe für Geschichten, die uns Leser etwas zum Rätseln überlassen. "Der Vorhang zu und alle Fragen offen."


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Wenn du Schreibregeln beherrscht, ist das gut. Wenn sie dich beherrschen, ist das schlecht.
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#8

RE: WURMLOCH - Claudios Schatten

in Archiv 24.06.2022 07:52
von Anka • Federlibelle | 756 Beiträge | 3343 Punkte

@Bree, @Doro, @Gini, @Jana88, @Carlotta Lila, @-jek

Vielen lieben Dank für eure Bewertungen. Ich habe mich riesig darüber gefreut. Wie ihr vermutet habt, ist das Ende wegen der Zeichenvorgabe so kurz geraten.

Ich wollte unbedingt etwas zum Wurmloch schreiben und mir viel einfach nichts ein. Bis dann vor meinem Bürofenster dieser Autokran mit baumelnden Schrottauto als Werbung für die Motorshow aufgebaut wurde. Als Verantwortliche bin ich gleich runter, ob das dann sicher sei, wegen Wind u.ä. und ob das auch richtig abgesperrt wird etc. Eine hübsche Frau (Vorlage für Belinda) beruhigte mich, sie machen das schon sehr lange und haben an alles gedacht. Nebenbei erwähnte sie dann, dass während der Show einer ihrer Kollegen im Auto dort oben sitzt und abstürzt. Da war die Story sofort klar.

@Gini, ich bin nicht böse, wenn du keinen Zugang dazu gefunden hast. Es ist schon sehr surreal, aber diesen Stuntman gibt es wirklich


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