#1

WURMLOCH Der Schmerz des Professors

in Archiv 30.04.2022 19:00
von -jek • Federlibelle | 711 Beiträge | 2145 Punkte

Jannus erwachte zitternd aus einem Albtraum, an dessen Inhalt er sich nicht im Geringsten erinnern konnte. Mit einer heftigen Bewegung schüttelte er die leichte Schlafmatte von seinem alten Körper. Prompt überflutete ihn eine Welle von Schmerz und Übelkeit. Jannus stöhnte auf. Desorientiert starrte ein gegen die lindgrüne Zimmerdecke. Wer war er und wo war er? Mit routinierter Wissenschaftlichkeit begann er mit der Bestandsaufnahme von Raum und Zeit, indem er als erstes die Umgebung mit den Augen abmaß.
Der Ort? Ein stilvoll eingerichtetes Krankenzimmer mit bodenlangem Fenster zur Terrasse, das den Blick auf einen weitläufigen Park ermöglichte. Die Zeit? Dem frischen Grün der Bäume nach war es Frühling. Frühling? Verdammt! Jetzt wusste er wieder alles. In einer jähen Gefühlsaufwallung verkrampften sich sämtliche Muskeln und ließen einen weiteren Schmerzhagel durch den Körper jagen. Heute war der erste Frei-Tag nach dem ersten Vollmond nach der Tagundnachtgleiche, also der Tag, an dem seit 2022 Jahren die Auferstehung der Natur gefeiert wurde. Wie gerne hatte er in jungen Jahren an diesem Tag mitgefeiert und so richtig das Schwein rausgelassen! Doch heute würde es für ihn ein Tag der Trübsal sein, der Auferstehungstag ein Tiefpunkt seines Lebens werden und die endgültige Vernichtung eines wichtigen Teil seines umfassenden wissenschaftlichen Werkes.
Professor Dr. Jannus, der bedeutendste Geologe und Vorzeit-Biologe der Gegenwart, Entdecker und Erforscher von rezenten, also aktuell noch lebenden Nachkommen der Fünf-Finger-Affen, wurde für einen Augenblick zu einem Qual-durchschossenen Häufchen Elend.
Dann entschied er sich, den Dingen so furchtlos ins Auge zu sehen, wie er es immer getan hatte. Schließlich hatte er im Obersten Rat der Gemeinschaft befürwortet, was heute zum Ende gebracht werden sollte. Entschlossen drückte er den Rufknopf.
Eines musste man dem Seniorenresort Zum Gütigen Geschwister lassen: Diese Einrichtung für verdiente Leistungsträger bot wirklich erstklassigen Service. Auf der Stelle waren zwei Pflegeaffen zur Stelle, versorgten ihn mit Schmerzmitteln, wuschen ihn, wickelten ihn in seinen seidenen Tagesponcho und setzten ihn behutsam in seinem Komfort-Rollstuhl ab. Dann hängten sie ihn an den Ernährungstropf.
Eine Stunde später hockte er im Park des Resorts vor den Kulissen eines improvisierten Sendestudios und inspizierte ein letztes Mal das Werk der Maskenbildner. Was er sah, stellte ihn zufrieden. Unter der Silbermähne, die das sonnengegerbte Leder seiner Gesichtshaut so recht zur Geltung brachte, blickte ihm im Spiegel eine noch immer eindrucksvolle Persönlichkeit entgegen. Aber vor allem sah er einen Affen, der mit sich und seinem Leben im Reinen war, auch mit der schwersten Entscheidung seiner Laufbahn, die heute ihre letzte Konsequenz haben würde.
Mit einem strahlenden Lächeln kam ihm jetzt die Starmoderatorin Sinina entgegen, schüttelte ihm herzlich die rechte Vorderhand und ließ sich dann mit lässiger Eleganz mit allen Vieren auf das berühmte Rote Kanapee nieder, das ihm gegenüber aufgestellt worden war.
Nach etwas Smalltalk schaltete das Studiolicht auf Aufnahme: „Herr Professor, für Sie als Vorzeit-Biologe ist das Geschehen vor 1,2 Millionen Jahren sozusagen zum offenen Buch geworden. Ihnen verdanken wir das meiste, was wir von dieser fernen Epoche der Geschichte des Lebens wissen.“ Sanina übersah die bescheiden abwehrende Bewegung ihres Gegenüber und fuhr fort: „Wann haben Sie ihre Faszination für diese Zeit entdeckt?“
Jannus lächelte: „Gleich zu Beginn meines Studiums. Ich hatte mich in Psychologie eingeschrieben, als ich per Zufall in eine Vorlesung von Professorin Wegena geriet. Damals war es noch völlig unklar, wie es zum letzten großen Artensterben gekommen war. Man wusste nur, dass nach einer plötzlichen, unerklärlichen Erderhitzung ein noch plötzlicherer nuklearer Winter einsetzte, dessen Ausläufer erst vor etwa 150 000 Jahren ihr Ende nahm. Wegena stellte die zunächst mehr als unwahrscheinliche These auf, dass irgendwelche intelligenten Bioformen daran Schuld haben könnten. Die Idee elektrisierte mich und hat mein Interesse an der Geologie erweckt.“
Sinina hakte ein, um das Thema voranzutreiben: „Und schon bald haben Sie in Ausgrabungen nicht nur die Zivilisation der Fünf-Finger-Affen nachgewiesen, sondern auch Überreste unserer eigenen Vorfahren entdeckt.“ Jannus nickte und musste sich zusammenreißen, um nicht in seinen Erinnerungen zu versinken. „Und dann“, fuhr Sinina fort, „standen Sie vor der größten Überraschung ihres Lebens.“ Sie gab ein Zeichen und ein Einspieler zeigte als Dokufiction Jannus´ Entdeckung der Nachfahren der Fünf-Finger-Affen, ihre Zähmung und die Entwicklung einer gemeinsamen Zeichensprache zur Arten-übergreifenden Kommunikation.
Jannus schmunzelte zufrieden über das Machwerk. Besonders freute ihn, dass einer der attraktivsten Schauspieler der Gemeinschaft seine, Jannus´, Rolle übernommen hatte.
„Was dann folgte, ist wohl allen noch lebhaft im Gedächtnis“, nahm Sanina nach Ende des Einspielers den Gesprächsfaden wieder auf. Der alte Affe nickte und überließ es der Moderatorin, das für ihn schmerzvolle Geschehen zusammenzufassen. Die rezenten Nachfolger der Fünf-Finger-Affen wurden auf einer Insel angesiedelt und dort wissenschaftlich beobachtet. Eines schrecklichen Tages, Jannis selbst war im Urlaub gewesen, hatten die Fünffinger das Wissenschaftlerteam überfallen und getötet, waren ans Land übergesetzt und hatten drei Ufersiedlungen niedergebrannt und auch deren Einwohner allesamt getötet. Jannus räusperte sich: „Vielleicht hätte ich es voraussehen müssen. Wir hatten durch Genanalyse und Verhaltensstudien neben einer relativ hohen Intelligenz auch eine überhöhte Kontrollstörung und eine raubtierhafte Bereitschaft zu Aggression festgestellt. Aber ich hatte mir nie vorstellen können, das Affen auch Affen morden könnten.“
Später, als sich die Fernsehleute verzogen hatten, ließ sich der Alte noch einmal in den Park bringen. Er wollte in dieser Stunde mit seinen Gedanken allein zu sein.
„Auch wir haben dieses Aggressionspotential“, dachte er. „Aber wir richten es nur gegen nicht-äffische Spezies. Untereinander versuchen wir Konflikte mit Verständnis und Liebe zu regeln, im Zweifel auch mit körperlichen Zärtlichkeiten. So haben wir es weit gebracht, haben eine hohe Zivilisation aufgebaut. Aber manchmal fehlt mir etwas, manchmal hätte ich gerne etwas mehr frischen Wind in der Gemeinschaft, etwas mehr Kontroversen, mehr Adrenalin. Und offensichtlich geht es den meisten Affen so, sonst würden sie nicht so begeistert zu den Tierkämpfen strömen. Vielleicht hätten wir von unseren aggressiven Verwandten doch noch etwas lernen können.“
Er nickte zur Bekräftigung seiner Gedanken. Als dass Geschrei aus der nahen Arena laut zu ihm herüberwehte, lief eine verstohlene Träne über sein Gesicht. Der Uhrzeit nach wurden dort gerade die letzten überlebenden Fünffinger zur Feier des Tages den wilden Bestien zur Zerfleischung vorgeworfen. Sicher ist sicher.


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zuletzt bearbeitet 30.04.2022 19:02 | nach oben springen

#2

RE: WURMLOCH Der Schmerz des Professors

in Archiv 01.05.2022 11:37
von Bree • Federlibelle | 4.337 Beiträge | 17414 Punkte

Lieber @-jek

ich muss gestehen, deine Geschichte verwirrt mich etwas. Sie ist sehr wissenschaftlich, was ja an sich nichts Schlimmes ist, doch kann ich ihr, fürchte ich, nicht vollends folgen. Ich nehme an, mit Fünffinger-Affen sind die Menschen gemeint? Und die Erde wird von Affen regiert?
Auch fehlte mir das Wurmloch, bzw. der Schritt hindurch in eine andere Welt, es sei denn, ich habe was überlesen.

Vielleicht kannst du meine Wissenslücken aufklären?

LG
Bree


Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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#3

RE: WURMLOCH Der Schmerz des Professors

in Archiv 01.05.2022 15:20
von -jek • Federlibelle | 711 Beiträge | 2145 Punkte

Ich gestehe, dass ich das Wurmloch leicht regelwidrig interpretiert habe. Und eine Geschichte, die stark erklärungsbedürftig ist, ist augenscheinlich noch nicht fertig geschrieben.
Ich interpretiere also die Story:
Die Geschichte spielt auf unserer Erde, nur 1,2 Millionen Jahre nach unserer Zeit. Die Protagonist, ein Geologe, geht ganz nach Geologenart auf die Reise in eine ferne Vergangenheit, die sich dem Leser als unsere Jetztzeit entpuppt - entpuppen sollte, so hatte ich ees vor :-). Und bei seinen Forschungen stößt er auf unsere kümmerlich überlebenden Nachkommen, die sich wie durch ein Wurmloch in seine Zeit gerettet haben. Als unsere Nachkommen sind sie nicht nur durch ihr aggressives Verhalten erkennbar, sondern auch durch die Eigentümlichkeit, fünf statt vier Finger bzw. Zehen an den Gliedmaßen zu haben.


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#4

RE: WURMLOCH Der Schmerz des Professors

in Archiv 17.05.2022 22:16
von Jana88 • Federlibelle | 564 Beiträge | 1302 Punkte

@-jek

fast so wie in der Erklärung habe ich es auch verstanden. Ich war aber zwischendrin immer wieder raus und musste überlegen, wie die Zusammenhänge sind.
Aber den sprachlichen Stil fand ich super, das habe ich gern gelesen, so berichts-mäßig.


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#5

RE: WURMLOCH Der Schmerz des Professors

in Archiv 12.06.2022 15:17
von Gini • Federlibelle | 1.797 Beiträge | 3677 Punkte

@-jek ich habe mir auch gedacht, dass die Fünffinger Wesen die Menschen darstellen sollen.
Ich denke, du hast auch ein wenig auf den Krieg hingewiesen.
Tatsächlich gibt es ja auch Menschen, die andere töten. Leider. Gut gefallen hat mir, dass in deiner
Geschichte dieses erwähnt wird,

Zitat von -jek im Beitrag #1
Untereinander versuchen wir Konflikte mit Verständnis und Liebe zu regeln, im Zweifel auch mit körperlichen Zärtlichkeiten

Ach, wäre das nicht genial?


Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.

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#6

RE: WURMLOCH Der Schmerz des Professors

in Archiv 16.06.2022 12:47
von Doro • Federlibelle | 2.350 Beiträge | 9189 Punkte

Lieber @-jek ,

ich muss gestehen, ich habe erst die Kommentare gelesen und dann deinen Text. So hab ich aber zumindest verstanden, um was es geht. Ohne diese Zusatzinformationen hätte ich wahrscheinlich auch nachfragen müssen.

1,2 Millionen Jahre sind für mich ein so großer Zeitraum, dass ich mich nicht damit identifizieren kann. Auch, wenn die Vorstellung tröstlich ist, dass die Erde in so weiter Zukunft immer noch existiert.

Das Problem mit dem Pflegenotstand scheint sich bis dahin ja gelöst zu haben.


LG
Doro


Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)
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#7

RE: WURMLOCH Der Schmerz des Professors

in Archiv 18.06.2022 06:49
von Anka • Federlibelle | 756 Beiträge | 3343 Punkte

Lieber @-jek, eine Geschichte voller Utopie, Fantasie und mit sehr aktuellen Bezügen. Ich habe den wirklichen Zusammenhang auch erst richtig nach deiner Erklärung verstanden. Sehr bewundernswert, sich gedanklich in so ferne Zeiten zu begeben. Es hat mir Spaß gemacht, mich darauf einzulassen und auch dein Schreibstil gefällt mir sehr.


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#8

RE: WURMLOCH Der Schmerz des Professors

in Archiv 22.06.2022 07:17
von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.151 Beiträge | 9415 Punkte

Hallo @-jek!
Eine sehr interessante Erzählung, die toll geschrieben ist. Ich habe natürlich auch rumgerätselt wer die fünffingrigen Affen sind - Menschen oder Affen, offensichtlich intelligent. Ich musste dauernd an Planet der Affen denken (-:
Auch sonst habe ich während dem Lesen viel rumspekuliert.
Wie dem aber auch sei, mir hat deine Interpretation des Themas dennoch ziemlich gut gefallen!

LG
Carlotta Lila


https://www.leseflamme.jimdofree.com

Unsere größte Schwäche liegt im Aufgeben. Der sicherste Weg zum Erfolg ist immer, es noch einmal zu versuchen.
Thomas Alva Edison
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#9

RE: WURMLOCH Der Schmerz des Professors

in Archiv 23.06.2022 12:22
von -jek • Federlibelle | 711 Beiträge | 2145 Punkte

@Carlotta Lila @Planet der Affen: Ich hatte beim Schreiben den Film, den ich vor vielen Jahren gesehen hatte, überhaupt nicht mehr im Bewusstsein. Das finde ich Nachhinein verwunderlich. Vielleicht ist die Erklärung, dass ich von von Anfang an die Perspektive der Affen eingenommen hatte. Trotzdem sind mir beide Stoffe zu dicht beieinander, und ich würde mir bei einer Veröffentlichung berechtigte Plagiatsverwürfe einhandeln.


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