#1

SGZ 14 - Das Lastauto

in Die Geschichten der Woche 07.04.2022 09:01
von Yggdrasil • Federlibelle | 1.186 Beiträge | 3058 Punkte

Das Lastauto
Eine Zeitreise in die 1950er Jahre



Ich ging noch nicht zur Schule und beneidete meinen gut zwei Jahre älteren Bruder, denn heute war Kinderfest im Dorf. Da wollte ich unbedingt dabei sein und zuschauen. Meine Mutter kramte eine saubere kurze Hose und weiße Kniestrümpfe hervor, dazu ein kariertes Hemd.
„Nächstes Jahr bist du auch dabei“, sagte sie und gab mir zwei Groschen mit. „Kauf dir etwas davon.“
Es war das erste Mal, dass ich eigenes Geld in der Hand hielt. Ich steckte es tief in die Hosentasche, als ich mich auf den Weg zum Festplatz bei der Gastwirtschaft machte. Meine guten blankgeputzten Schuhe waren schon nach wenigen Metern schmutzig, denn die Dorfstraße war trocken und staubig.
„Die Straße soll bald asphaltiert werden“, hatte ich am Küchentisch aufgeschnappt. „Der Splitt liegt schon in Haufen an der Straßenkante, bald kommt die Teermaschine.“ Ich wusste zwar nicht genau, wovon die Erwachsenen sprachen, aber das hörte sich aufregend an. Asphaltieren, ein merkwürdiges Wort!
Schon bald hörte ich Musik und Kinderlärm vom Festplatz. Es war nicht mehr weit, trotzdem begann ich rennen. Bloß nichts versäumen! Ein prüfender Griff in die Hosentasche. Die beiden Groschen waren noch da.

So viele Menschen hatte ich noch nie gesehen. Alle Dorfkinder der Schule waren da, dazu mindestens ein Elternteil aus jeder Familie. Im Schatten einer Linde saßen drei Musiker, mit Geige, Trompete und Trommeln. Neben ihnen standen noch andere Musikinstrumente. Wer sollte die wohl spielen?
Ich entdeckte die mit gelb-rot-blauen Girlanden geschmückte Bude unseres Dorfkaufmanns. Er bot alle möglichen Süßigkeiten an. Ich sah ein Glas mit Dauerlutschern, einen Karton mit Brausepulvertütchen, Studentenfutter, Schokoladenplätzchen und vieles mehr. Wie weit mein Geld wohl reichen würde?
Ich streunte über den Platz. Viele Fahnen wehten im leichten Sommerwind, die Kinder hatten ihre feinsten Hosen und Röcke an, Blumengebinde mit buntem Flatterband bestimmten das Bild. Ein bekanntes Lied nach dem anderen wurde von der Musik gespielt. „Wenn die bunten Fahnen wehen …“.

Die Jungs, die nur wenig älter waren als ich, maßen sich im Ringstechen. Im Laufschritt versuchten sie, den Ring in der Halterung zu treffen und ihn herauszuziehen. Die großen Jungs dagegen fuhren auf geschmückten Fahrrädern und stachen so nach dem Ring zu treffen. Und die Mädchen machten das gleiche, indem sie auf einem Karussell saßen und im Vorbeifahren ihr Glück zu versuchen. Ihre Röcke wehten im Fahrtwind, ihre Zöpfe flogen. Jeder Treffen wurde laut gefeiert.
Die Zielsichersten würden Königin oder Könige des Tages werden. Sie würden dann als Königspaare als besondere Auszeichnung Schärpen tragen und ein ganzes Jahr lang regieren! Die neuen Majestäten würden am Abend ehrenvoll den Paradeumzug durchs Dorf anführen.
Bald würde auch ich an den Wettspielen teilnehmen – und natürlich König werden!
Auch wir Kleinen konnten mitmachen beim Eierlaufen, Sackhüpfen, Topfschlagen, Kringelbeißen und anderen Spielen. Das kostete kein Geld, und zur Belohnung gab es jeweils Bonbons. Ich machte überall mit, hatte Süßigkeiten im Überfluss – und immer noch meine beiden Groschen in der Tasche!

Ich stromerte weiter. In der Gaststube blieb ich nicht lange. Einige Männer spielten Karten, andere standen am Tresen und grölten. Frauen saßen eng beieinander auf Bänken und schnatterten laut um die Wette. Mit gespitzten Fingern hielten sie kleine Likörgläser und nippten fortwährend davon. Die Luft roch ganz merkwürdig dort drinnen, und so ging ich wieder hinaus, es gefiel mir hier überhaupt nicht. So gelangte ich in den großen Tanzsaal. An den Seiten waren lange Tisch- und Stuhlreihen aufgestellt. Auf jedem Platz war angedeckt, Blumensträuße und bunte Bänder schmückten die Tische. Alles war für die große Kaffeetafel vorbereitet. Aber nicht für mich, denn ich musste ja noch ein Jahr warten, bis auch ich dabei sein durfte. Ich wollte schon den Festsaal verlassen, als mein Blick an einem langen Tisch vor der Bühne hängenblieb. Viele Sachen lagen darauf, alle mit einer Nummer versehen. Es waren wunderbare Spielsachen, Puppen, Bälle, Malsachen, Büchlein, aber auch Süßigkeiten. In der Mitte des Tisches aber ein großer Lastwagen aus Holz! Ein Pappschild mit einer großen 1 war daran befestigt. Das Lastauto war so groß, dass ich auf dem Anhänger Platz finden könnte. Er war wunderbar anzusehen, rot und blau angestrichen, mit Gummirädern. So ein schönes Auto, das wünschte ich mir. Ich streckte die Hand aus, um es zu berühren.
„Das sind die Preise für die Gewinner der Wettspiele! Und das Lastauto ist der Königspreis. Du gehörst du wohl noch nicht zu den Wettkämpfern, oder?“
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass jemand den Saal betreten hatte.

„Nein“, sagte ich und ging hinaus. Nein, ich gehörte nicht dazu, und das Lastauto würde mir nie gehören. Traurig verließ ich den Festplatz. Auf dem Heimweg kam ich am Hof meines Freundes vorbei. Er rief mich zu sich.
„Komm, wir gehen spielen. Wir können in dem Splitthaufen der Straßenbauarbeiter spielen.“ Das war immerhin besser, als Trübsal zu blasen. Und Schuhe, Hemd und Hose waren sowieso schon nicht mehr sauber. Wenn ich jetzt das Lastauto hätte, könnte ich den gesamten Haufen aufladen und den Splitt auf der Straße verteilen. Da sollte er doch irgendwann sowieso hin! Dieses schöne Spielzeug gehörte mir ja nicht. Die Lust am Spielen verging und ich machte mich auf den Weg.

Mein Bruder war auch schon zurück vom Festplatz. Er war festlich geschmückt mit zwei über der Brust gekreuzten Schärpen. Er war König geworden!
„Guck, was ich gewonnen habe!“ Stolz drehte er sich um und zeigte auf den Küchentisch.

Da war er! Rot und blau, mein Lastwagen!


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#2

RE: SGZ 14 - Das Lastauto

in Die Geschichten der Woche 07.04.2022 17:14
von Doro • Federlibelle | 2.350 Beiträge | 9189 Punkte

Hallo @Yggdrasil ,

ich kann mir die Dorfszene genau vorstellen. Könnte der Prolog eines Romans sein.

Bleibt zu hoffen, dass der Bruder ihn mit dem Auto spielen lässt.

Zitat von Yggdrasil im Beitrag #1
weiße Kniestrümpfe
Da musste ich grinsen. Weiße Kniestrümpfe bei einem Dorffest. War klar, dass die nicht lange weiß bleiben.


Ich bin beim Lesen automatisch davon ausgegangen, dass der Erzähler männlich ist. (Wahrscheinlich, weil man bei einem Ich-Erzähler automatisch davon ausgeht, dass es autobiografisch ist. Obwohl ich als Autorin wissen müsste, wie viel Fantasie ein Autor hat.) Erst beim zweiten Mal lesen fiel mir auf, dass das mit keinem Wort erwähnt wird. Für die Geschichte es unerheblich und warum soll sich ein Mädchen keinen Lastwagen wünschen?


LG
Doro


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#3

RE: SGZ 14 - Das Lastauto

in Die Geschichten der Woche 08.04.2022 09:18
von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.151 Beiträge | 9415 Punkte

Hallo @Yggdrasil, du zeigst uns hier einen tollen Ausschnitt von einem Kinderfest im Dorf in den 50ern. Ein bisschen musste ich auch an Breugels Dorfszenen denken, obwohl das ja wieder ganz was anderes und viel, viel älter ist.
Was für ein Gefühl das wohl gewesen sein muß, dass der Bruder den Lastwagen gewonnen hat. Da habe ich mir im Geist die Story ein wenig weiter spinnen wollen: Einerseits war da Freude und andererseits ein "schade, der gehört jetzt nicht mir" ...

Zwei Erbsen
... indem sie auf einem Karussell saßen und/UM im Vorbeifahren .... /Jeder TreffenR wurde laut gefeiert.

LG
Carlotta Lila


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Unsere größte Schwäche liegt im Aufgeben. Der sicherste Weg zum Erfolg ist immer, es noch einmal zu versuchen.
Thomas Alva Edison
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#4

RE: SGZ 14 - Das Lastauto

in Die Geschichten der Woche 08.04.2022 12:40
von Bree • Federlibelle | 4.335 Beiträge | 17407 Punkte

Lieber @Yggdrasil

wenn dies eine autobiographische Erinnerung ist, dann staune ich über die Detailtreue, die in der Schilderung durchblitzt.
Falls nicht, bewundere ich, wie authentisch dieser Text wirkt. Du hast uns, wie versprochen, auf eine kleine Zeitreise mitgenommen.
Zwei Groschen, das war in meiner Kindheit nicht sehr viel, aber in den Fünfzigern vermutlich schon ein kleines Vermögen, wenn man sich davon Naschkram kaufen konnte. Und dein Prota hat es nicht einmal ausgegeben.

Was muss das für ein Gefühl sein, wenn der ersehnte Gewinn an den Bruder fällt. Ich schätze, das hängt von dem Bruder und dem Verhältnis zwischen den Geschwistern ab. Wenn der große Bruder seinen jüngeren gern hat, lässt er ihn bestimmt damit spielen.

Sehr schön geschrieben, gern gelesen.

LG
Bree


Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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#5

RE: SGZ 14 - Das Lastauto

in Die Geschichten der Woche 08.04.2022 13:13
von Yggdrasil • Federlibelle | 1.186 Beiträge | 3058 Punkte

@Bree Danke - und ja, eigene Erinnerung. Ich kann mind. bis zu meinem 3. Lebensjahr erinnern. Und für 2 §Groschen" bekam man mind. 6 Zigaretten/Eckstein!
Und Bruderherz hat mich spielen lassen. Zusammen haben wir den Straßensplitt in unserem Bauerngarten verteilt. Sehr zur Freude unserer Eltern


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#6

RE: SGZ 14 - Das Lastauto

in Die Geschichten der Woche 08.04.2022 17:32
von Gini • Federlibelle | 1.797 Beiträge | 3677 Punkte

@Yggdrasil eine sehr schöne Zeitreise. Die weißen Kniestrümpfe durfte ich auch am Sonntag tragen.
Das war immer ein Highlight, wenn die Kniestrumpf Saison begann. Röcke und Kniestrümpfe.
Der arme kleine Junge. Sein begehrtes Spielzeug hat jetzt der Bruder eingeheimst.

Zitat von Yggdrasil im Beitrag #1
trotzdem begann ich rennen

Meintest du zu rennen?
Zitat von Yggdrasil im Beitrag #5
Ich kann mind. bis zu meinem 3. Lebensjahr erinnern.

Eigentlich heißt es doch, Kinder können sich erst ab dem 3.Lebensjahr erinnern.
Ich erinnere mich noch, dass man für einen Groschen eine Tüte Kuchenreste kaufen konnte. das war super.


Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.

Wilhelm Busch (1832-1908)
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#7

RE: SGZ 14 - Das Lastauto

in Die Geschichten der Woche 08.04.2022 18:54
von Yggdrasil • Federlibelle | 1.186 Beiträge | 3058 Punkte

Zitat von Gini im Beitrag #6
Eigentlich heißt es doch, Kinder können sich erst ab dem 3.Lebensjahr erinnern.

Tja, so ist es häufig zwischen Theorie und Praxis.

Danke für die Erbsen, sind/waren mehr drin, habe schon überarbeitet.

Ich habe auch noch mehr zeittypische Beobachtungen eingebaut, die mir erst später eingefallen sind.


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zuletzt bearbeitet 08.04.2022 18:54 | nach oben springen

#8

RE: SGZ 14 - Das Lastauto

in Die Geschichten der Woche 08.04.2022 21:34
von Mary Poppins (gelöscht)
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@Yggdrasil
Das war eine schöne Zeitreise! Und wie schön, dass der Bruder auch noch teilen wollte ☺️
Geteilte Freude ist doppelte Freude …
Das mit den Erinnerungen ist ja sehr individuell. Ich kann mich beispielsweise an sehr frühe Dinge erinnern.
Gibt’s den Lastwagen noch?


Yggdrasil hat sich bedankt!
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#9

RE: SGZ 14 - Das Lastauto

in Die Geschichten der Woche 08.04.2022 22:44
von Yggdrasil • Federlibelle | 1.186 Beiträge | 3058 Punkte

@Mary Poppins Nein leider, den gibts nicht mehr. Aber die Geschichte ...


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#10

RE: SGZ 14 - Das Lastauto

in Die Geschichten der Woche 08.04.2022 22:47
von Mary Poppins (gelöscht)
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@Yggdrasil
Das ist doch die Hauptsache 👍


zuletzt bearbeitet 08.04.2022 22:48 | nach oben springen

#11

RE: SGZ 14 - Das Lastauto

in Die Geschichten der Woche 09.04.2022 13:26
von Jasemine (gelöscht)
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Ich mag diese "Geschichten", ich kann mich hinsetzen und dir zuhören, ganz lange. Sie haben, diese Geschichten, obwohl es sicherlich auch keine einfache Zeit war, etwas "heiles". Weil sie alltägliches beschreiben, weil sie menschliches zeigen, weil sie auch so voller Liebe sind und ich kann nur mit einem Satz enden oder vielmehr einer Frage, Wissen wir, wenn es schön war? Oft nicht. Besonders in diesen zeiten ist der bewusste Moment der wichtigste. Vielen Dank. @Yggdrasil


Yggdrasil hat sich bedankt!
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#12

RE: SGZ 14 - Das Lastauto

in Die Geschichten der Woche 09.04.2022 14:15
von Yggdrasil • Federlibelle | 1.186 Beiträge | 3058 Punkte

@Jasemine Ich lebe äußerst bewusst in der Gegenwart, hänge bei meiner Schreiberei aber meist in der Vergangenheit. Und ja, die "gute alte Zeit", romantisch-verklärt kommt sie meistens daher. Ich zeige aber meistens auf, wie schrecklich diese schönen Zeiten in Wirklichkeit waren: Unterdrückung, Krieg, Unfreiheit, Hunger, fehlende Hygiene, Auspressung der Menschen durch Kirche, König und Kaiser ...


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