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SGZ 47 "Der Beobachter" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 21.11.2021 14:04von Herbert Glaser • Federlibelle | 666 Beiträge | 1237 Punkte
Der Beobachter
von Herbert Glaser
Gespannt wartete er in absoluter Dunkelheit. Endlich deutete sich am Horizont mit kräftiger Rötung ein neuer Tag an. Die schräg einfallenden Strahlen der Morgensonne, die so behäbig aufstieg, als müsste sie erst die Schwerkraft überwinden, fluteten den weiten, vegetationslosen Talgrund mit ihrem Licht. Einzig die Schatten der zahllosen Felsbrocken bewegten sich langsam aber stetig. Schnell wandte sich der Beobachter ab.
Im nächsten Habitat war alles voller mannigfaltigem Leben. Taufeuchte Farne erhoben sich aus einem von abgestorbenen Pflanzenteilen bedeckten Boden. Neben palmähnlichen Gewächsen reckten sich erhabene Bäume mit überlappenden, elefantenohrengroßen Blättern dem senkrecht einfallenden Sonnenlicht entgegen, das kaum bis auf den Grund durchdringen konnte. Über den Baumwipfeln kreisten pelikanähnliche Tiere mithilfe ihrer von skelettartigen Armen getragenen Flügeln. Der Beobachter folgte einem jungen Bullen, der diese Wildnis durchstreifte. Mit seinen vier stämmigen Beinen, die in dreizehige Hufe mündeten und dem kurzen Rüssel bahnte der sich einen Weg durch die üppige Vegetation auf der Suche nach Nahrung. Unter einem hochgewachsenen Baum hielt er inne und fixierte schnaubend die saftigen, ananasgroßen Früchte, die außerhalb seiner Reichweite an den kräftigen Ästen hingen. Speichel tropfte ihm von den Mundwinkeln. Langsam zog sich der Bulle rückwärts ins Unterholz zurück, verharrte kurz und preschte mit vollem Tempo voran, um den massiven Körper wie einen Rammbock gegen den Stamm zu werfen. Eine Gruppe aufgeschreckter Vögel flatterte davon. Er wiederholte diese Prozedur einige Male, bevor er sich gierig über die herabgefallenen Früchte hermachte. Er schmatzte dabei so laut, dass er das ungewöhnliche Geräusch zuerst nicht wahrnahm. Ein Summen erfüllte die Luft, während sich der Himmel verdunkelte. Das fressende Tier sah auf, hob witternd den Rüssel und spitze die Ohren. Die Baumwipfel begannen zu knistern, als unzählige kleine Flügel daran vorbeirauschten. Der Bulle riss den Kopf nach oben, ließ seine Beute aus dem Maul fallen und verdrehte die Augen. Aus dem Blätterdach stießen abertausende faustgroße Insekten herab und sammelten sich über ihm. Ein markerschütterndes Trompeten ausstoßend preschte er davon und verschwand im Unterholz. Die Wolke aus fliegenden Jägern folgte ihm in kurzer Entfernung. Ständig den Kopf schüttelnd erreichte er eine Lichtung und versuchte, auf dem übersichtlicheren Gelände schneller voranzukommen. Der Schwarm schien nur auf diese Gelegenheit gewartet zu haben. Ohne den Flüchtenden dabei zu berühren, umschwirrten die stachellosen Verfolger seinen Kopf und bombadierten ihn mit mentalen Impulsen, bis er keine Befehle mehr an den Körper abgeben konnte. Die Beine versagten den Dienst, der Bulle überschlug sich mehrmals und blieb schließlich unkontrolliert zuckend liegen. Sofort stürzten sich die Angreifer auf ihr Opfer, um mit ihren kräftigen Kauwerkzeugen das Festmahl zu beginnen. Innerhalb kürzester Zeit war von dem einstmals mächtigen Tierkörper nur noch das Skelett übrig.
Fasziniert von dem bizarren Schauspiel wandte sich der Beobachter dem nächsten Biotop zu.
Ein Weg aus Trittsteinplatten schlängelte sich an Farnen und Ziergräsern in verschiedenen Grüntönen, Azaleen, Pfingstrosen und Schwertlilien vorbei. Auf den akribisch angelegten Hügeln buhlten Bonsais, steinerne Laternen und ein kleiner Pavillon um Aufmerksamkeit. Den Mittelpunkt des Gartens bildete ein Teich mit geschwungenen Uferlinien, an denen Funkien und Prachtspieren wuchsen. Die schräg einfallenden Strahlen der Abendsonne ließen das Wasser wie Diamanten funkeln. Ein Vogel hing starr wie ein in Bernstein eingebettetes Insekt am Firmament. Langsam legte der Himmel sein Abendkleid an. Zwei Monde waren wie an den Himmel genäht, Wolken drumherum gestickt.
»Programm beenden!«, befahl Cchhristzakk mit seinen Gedanken und schüttelte die Flügel aus. Die holografische Projektion verschwand und die tristen Wände des Simulationsraumes kamen zum Vorschein. Mit zitternden Mandiblen dachte er an seine Heimatwelt, die vor langer Zeit unbewohnbar geworden war. Cchhristzakk hatte das große Glück gehabt, von einem Computerprogramm ausgewählt zu werden und an Bord eines Langstreckenraumschiffs zu einem Planeten reisen zu dürfen, auf dem eine neue Heimat gestaltet werden konnte. Auf seinen drei Beinpaaren krabbelte er zum Ausgang. »Jetzt kenne ich alle uns bekannten Welten. Ich werde darüber nachdenken und dir meine Auswahl mitteilen, bevor ich mich wieder in meine Box begebe.«
»Danke. Sobald wir bei unserem Zielplaneten angekommen sind, werde ich mit der Atmosphärenumwandlung beginnen. Bis die Umwelt dann der Abstimmung entsprechend gestaltet und für deine Spezies bewohnbar ist, wird Zeit vergehen, die mehreren tausend Jahren auf euerem ehemaligen Heimatplaneten entspricht. Ich wünsche einen angenehmen Tiefschlaf.«
Das aus einer gigantischen Metallkonstruktion bestehende Raumschiff maß an seiner längsten Stelle über fünfhundert Meter. An dem monumentalen Trägergerüst waren Module unterschiedlicher Größe und Form angebracht, die Platz für Passagiere und Ausrüstung boten. Diesem Schwertransporter fehlte jegliche Eleganz und Aerodynamik, denn er war im Weltraum zusammengebaut worden und würde niemals in die Atmosphäre eines Planeten eintauchen. Zum Erreichen der Planetenoberfläche gab es an Bord zahlreiche Landungsboote. Diese Shuttles waren, im Gegensatz zum schwerfälligen Mutterschiff, das sich vorwiegend auf einer ballistischen Flugbahn bewegte und lediglich kleine und langsame Kurskorrekturen vornehmen konnte, wendiger und unmittelbarer zu steuern.
Cchhristzakk trat an ein Terminal, übermittelte seine Entscheidung und begab sich zu der Box, in die er den Rest der Reise verbringen würde. Vor seinem inneren Auge tauchte die dschungelartige Wildnis noch einmal auf, bevor er zufrieden in den Schlaf glitt.
RE: SGZ 47 "Der Beobachter" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 23.11.2021 12:30von Bree • Federlibelle | 4.649 Beiträge | 19121 Punkte
Lieber @Herbert Glaser
eine faszinierende Welt, in die du uns mitnimmst. Besonders der Teil mit dem Bullen ist so bildlich beschrieben, dass ich alles vor mir sah. Toll gemacht!
Die Pointe mit dem Raumschiff habe ich nicht erwartet. Wohl, dass noch irgendwas kommen muss, schon wegen des ominösen Beobachters. Eine kluge Idee, gefällt mir sehr.
Gern gelesen!
LG
Bree
Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)
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RE: SGZ 47 "Der Beobachter" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 23.11.2021 14:46von Herbert Glaser • Federlibelle | 666 Beiträge | 1237 Punkte
Vielen Dank!
Das Thema hatte ich schon bei SGZ 42 aufgegriffen, damals mit Menschen, die auf den Mars umsiedeln müssen.
Aber warum sollten andere Wesen auf fremden Planeten nicht ähnliche Probleme haben.
Ich hoffe nur, dass dies nicht die einzige Geschichte der Woche bleibt.
In der Vorweihnachtszeit ist doch alles recht hektisch und es muss eine Menge erledigt werden.
Wo doch jetzt auch noch das Kalender-Projekt läuft ...
Viele Grüße
Herbert
RE: SGZ 47 "Der Beobachter" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 27.11.2021 22:16von Doro • Federlibelle | 2.515 Beiträge | 9878 Punkte
Hallo @Herbert Glaser ,
die Szene mit den Insekten finde ich eher beängstigend, denn faszinierend. Dann was bei Tieren geht, geht bestimmt auch bei Menschen. Gruselige Vorstellung.
Aber da das Ganze noch einige Tausend Jahre dauern wird, werden wir es nicht mehr erleben.
D.h. die wollen aus dem Mars (oder wo immer die sind) eine neue Erde machen? Hab ich das richtig verstanden? Dann hätte unsere Erde Zeit, sich zu erholen.
LG
Doro
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)
RE: SGZ 47 "Der Beobachter" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 28.11.2021 08:08von Herbert Glaser • Federlibelle | 666 Beiträge | 1237 Punkte
Hallo Christa,
das mit dem Mars war Thema bei SGZ 42.
Diesmal ging es um ein Insektenvolk irgendwo im Universum, das vor der gleichen Situation steht.
Schönen ersten Advent!
Herbert
RE: SGZ 47 "Der Beobachter" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 28.11.2021 14:31von Gini • Federlibelle | 1.838 Beiträge | 3794 Punkte
@Herbert Glaser
Es ist erschreckend und faszinierend. Die Insekten, die den Bullen manipulativ beeinflussen können,
finde ich unheimlich. Aber wer weiß, was unsere Kindeskinder noch erwartet.
Die letzten Bilder mit den Pflanzen und Bonsais, Azaleen und anderen Pflanzen, fand ich am schönste.
Einiges habe ich nicht so ganz verstanden, Sorry. Ist das aus der Perspektive des Raumschiffs erzählt?
Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.
Wilhelm Busch (1832-1908)
RE: SGZ 47 "Der Beobachter" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 28.11.2021 14:42von Herbert Glaser • Federlibelle | 666 Beiträge | 1237 Punkte
Die Antwort »Danke. Sobald wir bei unserem Zielplaneten angekommen sind, werde ich mit der Atmosphärenumwandlung beginnen. Bis die Umwelt dann der Abstimmung entsprechend gestaltet und für deine Spezies bewohnbar ist, wird Zeit vergehen, die mehreren tausend Jahren auf euerem ehemaligen Heimatplaneten entspricht. Ich wünsche einen angenehmen Tiefschlaf.« ist tatsächlich vom Raumschiff-Computer.
Der Rest von einem unabhängigen Erzähler.
Viele Grüße
Herbert
RE: SGZ 47 "Der Beobachter" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 28.11.2021 15:13von MIO • Fleißbiene / Fleißdrohne | 46 Beiträge | 140 Punkte
Hallo @Herbert Glaser
Eine beeindruckende Wildnis hast du da geschaffen. Es ist mir ein Rätsel, wie du so einen grandiosen Text in einer Stunde aufs Papier bekommst. Ich fange einen Text an, schreibe drei Sätze und dann hakt es und schon allein der Druck, dass die Geschichte in einer Stunde fertig werden muss blockiert mein schreiberisches Potenzial.
LG MIO
RE: SGZ 47 "Der Beobachter" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 28.11.2021 16:42von Herbert Glaser • Federlibelle | 666 Beiträge | 1237 Punkte
Danke!
Ich muss zugeben, dass ich beim Schreiben nicht auf die Uhr sehe und die Minuten zähle.
Deshalb kann er durchaus sein, dass ich mehr als eine Stunde brauche.
Andere Wiesenbewohner geben an, wo die Stunde um war und schreiben dann weiter.
Da ich meistens auch nicht in einem Zug durchschreibe und Pausen mache, kann ich das schwer angeben.
Viele Grüße
Herbert
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