#1

SGZ 45 "Der Praxistest" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 07.11.2021 15:32
von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte

Der Praxistest

von Herbert Glaser


Klaus-Dieter stieg aus dem Bus und streckte sich. Er hatte einen Spaziergang von drei Kilometern vor sich, was bei seiner hervorragenden Fitness natürlich kein Problem darstellte.
Eigentlich wollte er heute das Hawaii-Hemd anziehen, das er sich während des kurzen Techtelmechtels mit einem Fitnessstudio zugelegt hatte. Aus unerfindlichen Gründen passte es nicht mehr, war wohl beim Waschen eingegangen.
Seine letzten sportlichen Aktivitäten lagen einige Zeit zurück, aber immerhin ging er über das Treppenhaus zu seinem Apartment im zweiten Stock - wenn der Lift streikte.
Klaus-Dieter fasste in die Jackentasche, hielt inne und zog die Hand wieder heraus. Nein, heute würde er keine Zigarette rauchen, nicht heute. Er hatte vor, in ein paar Minuten Nichtraucher auf dem Fragebogen anzukreuzen. Und das entsprach der Wahrheit, denn seit gestern Abend hatte er nicht mehr geraucht.
Das Ganze war sowieso lediglich eine Formalität. Für eine Lebensversicherung benötigte er eine aktuelle Gesundheitsprüfung.
Kneipenfreund Heinz hatte ihm dazu den entscheidenden Tipp gegeben:

„Der Doktor Rieder in Freising, der macht null Probleme und drückt ein Auge zu, falls ein einzelner Wert mal ´ne Spur zu hoch ist, da kannst’de dich drauf verlassen.“
Und wenn Heinz das sagte, gab es keinen Grund, daran zu zweifeln.
Klaus-Dieter hatte die Hälfte des Weges zurückgelegt, als er sich eine kleine Verschnaufpause gönnte. Die drei Tassen schwarzen Kaffees, die er jeden Morgen auf nüchternen Magen trank, fehlten ihm. Aber kein noch so leckeres Getränk durfte sein makelloses Blutbild verfälschen.
Endlich hatte er die Praxis erreicht. In spätestens 30 Minuten würde Klaus-Dieter mit einem perfekten Gesundheitszeugnis herausmarschieren und sich an der nächsten Pommes-Bude erst einmal ein Frühstück gönnen, das hatte er sich verdient. Völlig außer Atem und mit schweißnasser Stirn nahm er ein Formular entgegen und ließ sich im Wartezimmer auf einen Stuhl plumpsen, der vernehmlich ächzte. Aus unsichtbaren Lautsprechern dudelte eintönige Radiomusik.

„Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“ Die Sprechstundenhilfe Brigitte führte ihn in eines der Behandlungszimmer und nahm Blut ab. Zumindest versuchte sie es, während sie abfällige Bemerkungen über dicke Arme machte. Das muss eine Anfängerin sein, dachte Klaus-Dieter, und unverschämt dazu. Er schluckte den Protest hinunter.
„Wo ist denn Doktor Rieder?“, erkundigte er sich.
„Der ist seit über drei Jahren im Ruhestand. Frau Doktor Radowsky hat die Praxis übernommen.“
Frau Doktor, wieso Frau Doktor, ich hatte mit Herrn Doktor Rieder vereinbart …“ Er schnappte nach Luft.
„Die Telefonnummer hat sich nicht geändert, Sie haben wahrscheinlich nur um einen Termin gebeten. Ziehen Sie sich bitte aus, wir müssen einige Messungen machen, bevor Frau Doktor zu Ihnen kommt.“ Brigitte deutete auf eine Digitalwaage.
Klaus-Dieter wuchtete seine viel zu großen Füße auf das Gerät und erstarrte. Mit aufgerissenen Augen glotzte er auf die Anzeige.
„Da haben wir wohl ein klein wenig geschummelt.“ Brigitte strich die von Klaus-Dieter geschriebenen »98 kg« durch und notierte »120 kg« darüber.
„Das muss ein Messfehler sein, wann haben Sie denn die Batterien zum letzten Mal gewechselt?“
Brigitte ignorierte den Einwand. „Und nun hierher.“
Mit dem Rücken zur Wand streckte sich Klaus-Dieter so gut es ging - vergeblich. Ein weiterer Wert wurde korrigiert. »177cm« stand nun über den durchgestrichenen »180cm« Körpergröße.
„Das kann nicht sein“, schrie Klaus-Dieter fast, „seit meinem zwanzigsten Geburtstag bin ich einsachzig groß!“
„Ich denke, Ihren Blutdruck messen wir lieber später“, blieb Brigitte betont ruhig, während sie zur Tür ging, „das wird Frau Doktor gleich selbst übernehmen.“
Die ließ nicht lange auf sich warten und kam nach der Messung sofort auf den Punkt: „Das Blutbild bekommen wir zwar erst in zwei Tagen, aber Folgendes kann ich Ihnen bereits heute sagen:“
Vor seinem inneren Auge sah Klaus-Dieter einen ICE ungebremst auf sich zu rasen.
„Sie bewegen sich kaum, essen zu viel und vor allem zu ungesund. Sie wollen ein Gesundheitszeugnis für ihre Versicherung? Dann sollten Sie besser das Formular neu ausfüllen. Wissen Sie, dass Falschangaben zu einem Erlöschen der Versicherungsleistung führen können?“
„Aber Frau Doktor Ra... Ra...
„Radowsky!“ Der Name stand wie ein Ausrufezeichen vor Klaus-Dieter.
Er nahm seinen restlichen Mut zusammen. „Überlegen Sie sich besser, was Sie sagen. In diesem Land herrscht freie Arztwahl. Ich kann jederzeit in eine andere Praxis gehen.“
„Da haben Sie ausnahmsweise recht. Ich kümmere mich jetzt erstmal um den nächsten Patienten und komme danach wieder zu Ihnen. Sollten Sie zur Vernunft gekommen sein, erhalten Sie als ersten Schritt von mir einen Ernährungs– und Fitnessplan. Dann sehen wir weiter.“
Mit heruntergeklapptem Kiefer blieb Klaus-Dieter zurück und überlegte.
Als er heute Morgen die Praxis betreten hatte, war er ein Mann in den besten Jahren. Nicht unbedingt schlank, höchstens ein kleinwenig untersetzt, aber auf keinen Fall fett, auf gar keinen Fall. 22 Kilo mehr, wo sollten die denn plötzlich herkommen.
Und die drei Zentimeter! Glauben die im Ernst, die können ihm einfach drei Zentimeter stehlen. Wenn die bereits bei so offensichtlichen Dingen manipulieren, was machen die dann bloß mit den Blutwerten. Das kann ich auf keinen Fall riskieren, dachte Klaus-Dieter und fasste einen Entschluss.
Er war als Mann in den besten Jahren mit einer Körpergröße von 180 Zentimetern in die Praxis gekommen und er würde diesen Ort als stattlicher Einsachziger verlassen. Die drei Zentimeter gönnte er ihnen nicht, die 22 Kilo dagegen konnten sie gerne behalten.
Keuchend, als würde er ein Zirkuszelt errichten, kämpfte er sich in seine Sachen, öffnete vorsichtig die Tür und schlich unbemerkt am Empfang vorbei hinaus.


Zufrieden lächelnd lehnte Klaus-Dieter an einer Werbetafel, bestellte sich per Handy ein Taxi und zündete sich eine Zigarette an.
Das Leben ist so schön, resümierte er, man muss es nur richtig genießen.


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zuletzt bearbeitet 07.11.2021 15:39 | nach oben springen

#2

RE: SGZ 45 "Der Praxistest" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 07.11.2021 16:26
von MIO • Fleißbiene / Fleißdrohne | 46 Beiträge | 140 Punkte

Hallo @Herbert Glaser

Das Wort der Woche kommt mir ein bisschen kurz, aber ansonsten wieder ein toller Text. Ja, da macht sich der Klaus- Dieter etwas vor und scheint völlig beratungsresistent. Einige Male hab ich laut aufgelacht.
LG MIO


zuletzt bearbeitet 07.11.2021 16:26 | nach oben springen

#3

RE: SGZ 45 "Der Praxistest" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 07.11.2021 22:22
von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte

Hallo Mio,

ein kleiner Klaus-Dieter ist sicher in jedem Menschen versteckt.

Man muss halt versuchen, sich zumindest manchmal der Realität zu stellen.

Viele Grüße

Herbert


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#4

RE: SGZ 45 "Der Praxistest" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 10.11.2021 17:45
von Doro • Federlibelle | 2.350 Beiträge | 9189 Punkte

Hallo @Herbert Glaser ,

da braucht es wahrscheinlich erst einen ernsthaften Schubs, bevor Klaus-Dieter etwas an seinen Gewohnheiten ändern wird. Ein Bekannter hatte 5 Schlaganfälle, hat zwar die Ernährung etwas umgestellt (alllerdings eher, weil er auch noch Diabetes hat) und raucht trotzem munter weiter. Versteh ich nicht.

Aber du hast recht, so ein klein Bisschen was von Klaus-Dieter hat wahrscheinlich jeder in sich.

Gern gelesen.

LG
Doro


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#5

RE: SGZ 45 "Der Praxistest" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 13.11.2021 14:14
von Bree • Federlibelle | 4.335 Beiträge | 17407 Punkte

Hi, @Herbert Glaser

so mancher kriegt einen Schreck, wenn er mit der ungeschönten Wahrheit konfrontiert wird. Bei einigen ist das hilfreich, die nehmen sich zumindest vor, etwas zu ändern, aber Klaus-Dieter lebt offenbar in seiner eigenen bequemen Welt.
Das wird sicherlich ein böses Ende nehmen.
Sehr bildlich und unterhaltsam geschrieben, aber das Wort der Woche habe ich erst so richtig wahrgenommen, als ich noch einmal den Text auf der Suche danach überflogen habe.

LG
Bree


Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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#6

RE: SGZ 45 "Der Praxistest" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 14.11.2021 06:02
von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.151 Beiträge | 9415 Punkte

Lieber @Herbert! Ein toller Text. Leider auch sehr realistisch, fürchte ich. Lieber verschiebt man die Realität, statt sich ihr zu stellen. Und diese Missachtung des eigenen Körpers...das hast du in dieser Charakterstudie sehr gnadenlos dargestellt.
Gerne gelesen!
LG
C Lila


https://www.leseflamme.jimdofree.com

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#7

RE: SGZ 45 "Der Praxistest" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 14.11.2021 14:50
von Gini • Federlibelle | 1.797 Beiträge | 3677 Punkte

@Herbert Glaser da macht sich der gute Klaus - Dieter aber richtig was vor.
Ich hatte ihn bei deinem Text bildlich vor Augen. Wenn er da nicht einmal das
Ruder umdreht, sehe ich schwarz für ihn.

Zitat von Herbert Glaser im Beitrag #1
war wohl beim Waschen eingegangen.

Komisch, das sagt mein Mann auch immer.
Und Sport ist Mord, ist seine Devise. Ich versteh so etwas immer nicht. Ich mache viel Sport.
Aber wirklich ein toller Text. Richtig aus dem Leben gegriffen. Erinnert an deine Geschichte im Kiosk.


Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.

Wilhelm Busch (1832-1908)
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#8

RE: SGZ 45 "Der Praxistest" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 20.11.2021 09:21
von Yggdrasil • Federlibelle | 1.186 Beiträge | 3058 Punkte

@Herbert Glaser Direkt aus dem Leben - bei leider sehr vielen Menschen. Die wissen nicht, was sie sich antun. Das Wort der Woche?


www.marten-petersen.com
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#9

RE: SGZ 45 "Der Praxistest" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 20.11.2021 14:52
von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte

Das Wort der Woche ist versteckt in dem Satz :

Aus unsichtbaren Lautsprechern dudelte eintönige Radiomusik.


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