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SGZ 45: Homeoffice hat was
in Die Geschichten der Woche 10.11.2021 17:35von Doro • Federlibelle | 2.091 Beiträge | 8284 Punkte
„Ich“, sagte sie.
Pause. Er wartete. Das war er gewohnt.
„Ich“, wagte sie einen neuen Ansatz, „ich hab die Telefonnummer aus dem Radio.“
Wieder eine Pause.
„Ich schaff das nicht“ sprudelte es aus ihr nun heraus. „Seit Wochen bin ich allein. Homeoffice.“ Sie lachte. Ein bitteres Lachen. „Als ich hergezogen bin, wegen dem neuen Job, konnte ja keiner ahnen, dass ein paar Tage später der Lockdown kommt. Ich kenn hier keinen. Absolut niemanden.“
„Sie müssen das als Chance sehen.“
„Chance? Was denn für eine Chance?“
Er seufzte innerlich. Dieses Gespräch hatte er so oder so ähnlich schon Dutzende Male in der letzten Woche geführt. Ach was. Täglich.
„Eine Chance zur Entschleunigung. Was haben Sie früher nach der Arbeit gemacht? Einkaufen? Fitnessstudio? Daheim schnell Essen in der Mikrowelle warm gemacht und anschließend vor dem Fernseher eingeschlafen?“
„Na und?“, heulte sie. „Das machen alle anderen doch auch.“
„Aber nicht allen macht es zu schaffen“, entgegnete er. „Jetzt können Sie alles mit Bedacht tun. Ohne zu hetzen. Dieses Hektik im Alltag ist es, die die Leute krank macht.“
„Und ich dachte“, murmelte sie leise, sodass er nicht sicher war, sie richtig zu verstehen, „das blöde Virus macht die Menschen krank.“
„Ich arbeite viel mehr als vorher“, widersprach sie. „Ein Zoommeeting jagt das nächste. Keine Zeit für Pausen. Sogar den Gang aufs Klo verkneife ich mir.“
Geräuschlos drehte er den Deckel der Thermoskanne auf und schüttete sich Tee in einen großen Becher. Da er mit Headset arbeitete, hatte er die Hände frei
„Sie trinken jetzt aber keinen Kaffee, während ich mit Ihnen rede, oder?“
„Nein“, beruhigte er sie. „Das wäre ja wirklich ungehörig. Ich versichere ich Ihnen, dass ich keinen Kaffee trinken. Versuchen Sie, alles so zu machen wie vor dem Lockdown. Gehen Sie morgens duschen und ziehen sich bürotauglich an. Eventuell schminken Sie sich, machen sich eine ordentliche Frisur. Frühstücken Sie ganz normal. Räumen Sie das Geschirr weg oder spülen es gleich ab. Vormittags können Sie eine Kaffeepause machen, wenn sie zuvor auch eine hatten.“
„Hatte ich“, warf sie dazwischen.
„Gut. Mittags kochen Sie oder holen sich etwas To-go. Das ist durchaus legitim. Niemand wird Ihnen einen Vorwurf machen. Nach dem Essen machen Sie einen kleinen Spaziergang. Da bekommt man den Kopf frei. Bewegung ist gesund. Wird Ihnen jeder Arzt bestätigen.“
„Aber den Rock oder die Bundfaltenhose sieht doch eh keiner. Warum kann ich keine Jogginghose anziehen?“
„Sie wirken souveräner, wenn Sie ordentlich gekleidet sind. Das überträgt sich auf Ihre Gesprächspartner. Ich trage grundsätzlich Anzug und Krawatte bei der Arbeit.“ Er hob den Becher, trank einen Schluck, verbrannte sich die Zunge und verschüttete einen Teil des Tees auf seinem Shirt. Hustend stellte er den Becher zurück.
„Sind Sie krank? Haben Sie schon einen Test gemacht?“ Es klang panisch.
„Selbst wenn ich Corona hätte, was ich nicht habe, ist nur eine Allergie, gegen …“ Er überlegte. „… gegen Hausstaub. Aber selbst, wenn nicht, könnte ich Sie nicht anstecken. Durchs Telefon unmöglich.“
„Sicher?“
Er verdrehte die Augen. „Ganz sicher“, antwortete er dennoch freundlich.
„Könnten wir uns nicht einmal treffen?“ Es klang zaghaft, schüchtern.
„Auf keinen Fall! Sie spinnen doch“, hätte er am liebsten gerufen. „Das geht nicht“, sagte er stattdessen, „Datenschutz. Sie verstehen?“
Tat sie bestimmt nicht, war ja auch Blödsinn, aber sie bejahte es.
„Darf ich Sie wenigstens wieder mal anrufen, wenn mir die Decke auf den Kopf fällt?“
„Selbstverständlich können Sie die Hotline Tag und Nacht anrufen. Damit werben wir ja.“
Er direkt nicht, aber die Firma, die ihm regelmäßig sein Gehalt aufs Konto überwies.
„Also gut. Dann räume ich jetzt mal auf und ziehe mich um. Dann bin ich bereit fürs nächste Meeting. Vielen Dank.“
„Keine Ursache.“
Er drückte auf den Knopf, lauschte der Stille nach. Dann zog er das nasse Shirt über den Kopf und warf es in die Ecke auf den Berg mit der Dreckwäsche.
Es klingelte. Er drückte sich vom Schreibtischstuhl hoch und watschelte zur Tür. Die Kette war vorgelegt, sodass sie sich nur einen Spalt öffnen ließ.
Draußen stand ein Mann in orangefarbener Jacke, machte einen Schritt rückwärts und rümpfte die Nase. „Gewichte gestemmt?“
„Seh ich so aus?“, brummte er und zog den Bund der Jogginghose über den Bauch.
„Eine Pizza Nummer 12 und zweimal den doppelten Burger. Macht 31,50.“
Er hatte das Geld in der Hosentasche und zählte es genau in die Hand des Auslieferers.
„Merci“, sagte er und zog die Schachteln durch den Spalt. Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer warf er einen Blick in den Garderobenspiegel, zuckte mit den Achseln. Konnte schließlich keiner verlangen, dass man in dieser Scheißzeit aussah wie Roger Moore als James Bond. Er beförderte die alte Pizzaschachtel vom Tisch auf den Boden und weiter mit einem Fußtritt in Richtung Mülleimer, wo sich bereits etliche Schachteln stapelten. Einige Fliegen suchten erschrocken das Weite, blieben allerdings in der Nähe, spekulierten auf eventuelle Reste.
Er klappte den Deckel der Pizzaschachtel auf, biss von einem der bereits vorgeschnittenen Achtel ab, setzte das Headset wieder auf und nahm den nächsten Anruf entgegen.
„Was kann ich für Sie tun?“, nuschelte er ein wenig undeutlich und schluckte die Pizza herunter.
„Ich“, sagte jemand.
Pause. Er wartete. Das war er gewohnt. Dazwischen gönnte er sich ein Stück des Burgers und hoffte, dass dieser Lockdown noch lange weiterging. Homeoffice hatte was.
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)

RE: SGZ 45: Homeoffice hat was
in Die Geschichten der Woche 10.11.2021 19:52von Herbert Glaser • Federlibelle | 655 Beiträge | 1222 Punkte
Hallo Christa,
eine wirklich tolle Geschichte!
Du beschreibst zwei durch die Pandemie ausgelöste Verhaltensweisen.
Sie ist vereinsamt, kommt mit der Situation nicht zurecht und wählt in ihrer Verzweiflung einen (sicher nicht kostenlosen) Telefonservice, der nur Standartantworten gibt (die bei ihr aber durchaus kleine Erfolge zeigen).
Er hat sich in der Situation eingerichtet, lässt sich gehen und verdient damit auch noch gutes Geld.
Wenn ich mir die aktuellen Coronazahlen ansehe, dann wird die Situation so schnell nicht besser.
Gelungene Geschichte!
Viele Grüße
Herbert

RE: SGZ 45: Homeoffice hat was
in Die Geschichten der Woche 11.11.2021 08:11von Doro • Federlibelle | 2.091 Beiträge | 8284 Punkte
Hallo @Herbert Glaser ,
Zitat von Herbert Glaser im Beitrag #2Danke! Das freut mich.
eine wirklich tolle Geschichte!
Dieses Phänomen oder die verschiedenen Verhaltensweisen haben wir in der Verwandtschaft auch. Erwachsene Kinder ziehen wieder zu ihren Eltern zurück, weil sie die Einsamkeit in der ersten eigenen Wohnung nicht mehr aushalten. Und andere lassen sich gehen, duschen z.B. max einmal pro Woche, weils ja eh keiner sieht.
Und diese Standardsprüche der Hotlines nerven auch. Wobei ich gestehen muss, dass ich noch nie eine Hotline bzgl. psychologischer Betreuung angerufen habe. Da gibt es sicher welche, die sich Mühe geben und den Menschen, die sich ihnen anvertrauen, wirklich helfen.
Und dann das Phänomen, dass man im Internet oder am Telefon alles Mögliche behaupten kann. Nachprüfen kann man es nicht. Und selbst wenn man jemanden beim Lügen erwischt, reagieren die Leute keineswegs mit Scham oder Entschuldigung.
LG
Doro
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)

RE: SGZ 45: Homeoffice hat was
in Die Geschichten der Woche 13.11.2021 14:07von Bree • Federlibelle | 3.882 Beiträge | 15328 Punkte
Hallo @Doro
ich stimme Herbert zu, wirklich eine gelungene Geschichte. Anfangs sieht man ihn in der Vorstellung tatsächlich adrett und gepflegt vor sich, der Switch zur Wirklichkeit kommt daher richtig gut rüber.
Ich hoffe, irgendwann werden wir über diese verrückten Zeiten mit Duschabstinenz und Jogginghosen schmunzeln können. Aber bis dahin vergeht sicherlich noch eine lange Zeit.
Gern gelesen!
LG
Bree
Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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Einen eigenen Youtube-Kanal habe ich auch. Dort lese ich einige meine Geschichten.
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RE: SGZ 45: Homeoffice hat was
in Die Geschichten der Woche 13.11.2021 18:22von Doro • Federlibelle | 2.091 Beiträge | 8284 Punkte
Liebe @Bree ,
Zitat von Bree im Beitrag #4Danke!
wirklich eine gelungene Geschichte.

Zitat von Bree im Beitrag #4Ich hoffe, es dauert nicht mehr allzulang. Die Menschen werden müde, haben immer weniger Lust, sich an irgendwas zu halten. Natürlich gibt es auch das Gegenteil, diejenigen, die, wenn sie lediglich den Müll rausbringen, eine Maske anziehen.
Ich hoffe, irgendwann werden wir über diese verrückten Zeiten mit Duschabstinenz und Jogginghosen schmunzeln können.
Ja, und ganz irgendwann können wir vielleicht darüber schmunzeln.
LG
Doro
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)

RE: SGZ 45: Homeoffice hat was
in Die Geschichten der Woche 14.11.2021 05:45von Carlotta Lila • Federlibelle | 1.961 Beiträge | 8373 Punkte
Liebe @Doro, eine beklemmende, toll geschriebene Geschichte, die zeigt, in was für unnatürlichen Lebensweisen wir uns zurechtfinden müssen. Wobei sich manche leichter tun und manche es garnicht packen.
LG
C Lila
https://www.leseflamme.jimdofree.com
Unsere größte Schwäche liegt im Aufgeben. Der sicherste Weg zum Erfolg ist immer, es noch einmal zu versuchen.
Thomas Alva Edison

RE: SGZ 45: Homeoffice hat was
in Die Geschichten der Woche 14.11.2021 14:59von Gini • Federlibelle | 1.736 Beiträge | 3514 Punkte
@Doro eine ganz aktuelle Geschichte. Du hast das Homeoffice gelungen
beschrieben. Ich meine, sie hat wenigstens noch etwas Struktur und zieht
sich oben rum anständig an. Er dagegen ... lässt sich wirklich gehen.
Wenn ich da so an meine Kinder denke. Sie machen ja auch schon ewig Homeoffice.
Aber sie sehen immer "angezogen" aus. Also keine Jogger.
Meine Tochter finde HO auch super. Sie kann zwischendurch die Wäsche machen, oder
in der Mittagspause zum Sport gehen. Dann die Kinder aus Schule und Kita abholen, ohne
vorher große Anfahrtswege zu haben. So verschieden sind die Menschen.
Aber sie haben auch so viele Kontakte. Also nicht einsam. Was bei deiner Prota ja offensichtlich anders ist.
Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.
Wilhelm Busch (1832-1908)

RE: SGZ 45: Homeoffice hat was
in Die Geschichten der Woche 20.11.2021 09:14von Yggdrasil • Federlibelle | 1.019 Beiträge | 2684 Punkte
@Doro Danke, Du hast den berühmten Nagel auf den Kopf getroffen. Hochaktuell und sicher realitätsnah.
www.marten-petersen.com

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