#1

SGZ 40 "Zwei Liebende" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 03.10.2021 20:46
von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte

Zwei Liebende

von Herbert Glaser


Die Beleuchtung des Verkaufsraums war dezent und unaufdringlich. Scheu tasteten die Blicke von Carmen und Marion über den Inhalt zahlreicher Vitrinen.
„Guten Tag, meine Damen, wie kann ich Ihnen helfen?“
Erschrocken drehten sich die beiden zu einem Verkaufstresen, hinter dem ein hagerer Mann mittleren Alters auf einem Stuhl saß.
Carmen fasste sich. „Wir wollten etwas fragen.“
„Dann treten Sie doch näher.“ Er stand auf und machte eine einladende Geste.
Die Frauen stellten sich vor den gläsernen Ladentisch und musterten ihr Gegenüber. Carmen holte das Papier hervor und gab es ihm. „Ist diese Rechnung aus Ihrem Laden?“
„Aber ja, diese Quittung habe ich selbst ausgestellt, erst letzte Woche.“
„Aber der Preis“, ergänzte Marion, „das muss doch ein Fehler sein!“
Erneut blickte der Mann auf das Dokument. „Zehn Euro? Der Betrag ist absolut korrekt.“
Die Frauen sahen sich verständnislos an.
„Erinnern Sie sich denn auch an die Kunden?“
Ein Lächeln umspielte den Mund des Verkäufers. „Aber gewiss, ein sehr sympathisches junges Paar. Ihre Namen waren Maximilian und Katharina, wenn ich mich recht erinnere.“
Mit offenem Mund starrten sie den Mann an.
Diesmal war es Marion, die sich aus der Starre löste. „Maxi und Kathi, das sind unsere Kinder. Aber wie können Sie Siebenjährigen so etwas verkaufen?“ Aus ihrer Handtasche holte sie ein kleines, edel aussehendes Etui, stellte es auf die Glasplatte und klappte es auf. „Das ist doch von Ihnen, oder?“
Prüfend beugte sich der Mann zu dem Objekt und nickte. „In der Tat, es handelt sich hier um Ware aus unserem Bestand. Ist damit etwas nicht in Ordnung?“
„Nicht in Ordnung?“ Carmen schrie fast. „Das hier ist ein Schmuckgeschäft, ein sehr teures, um genau zu sein ...“
„Ich bevorzuge die Bezeichnung exklusiver Juwelier.“ Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören.
„Na gut, dann eben exklusiv und teuer. Das ist doch bestimmt kein Modeschmuck, sondern echtes Gold.“
„Genau genommen handelt es sich dabei um bicolore Ringe aus Weiß- und Gelbgold mit 18-karätiger Legierung, hochpolierter Oberfläche und drei Diamanten.“
Carmen musste sich kurz abstützen. „Wie kommen Sie dazu, unseren Kindern ausgerechnet so etwas zu verkaufen?“
„Die Beiden haben sich von mir beraten lassen und sich schließlich für diese Ringe entschieden – eine sehr gute Wahl.“
„Und der Betrag? Ich habe in Ihrem Sortiment nichts gesehen, was unter mehreren hundert Euro zu haben ist.“
„Das stimmt allerdings. Jedoch hatte Maximilian nur zehn Euro dabei, deshalb musste ich den Preis etwas anpassen.“
„Etwas anpassen?“ Marion schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Wollen Sie uns auf den Arm nehmen? Wieso verkaufen Sie sündteure Ringe zu einem Spottpreis an Kinder?“
„Und warum“, ergänzte Carmen, „noch dazu Ringe, die ihnen viel zu groß sind? Das sind Eheringe für Erwachsene!“
Lange sah der Juwelier den Müttern in die Augen. „Ich verstehe Ihre Verwunderung und Sie haben natürlich eine Erklärung verdient. Ich habe in all den Jahren unzählige Eheringe an Paare verkauft und dabei gelernt, wie unterschiedlich die Menschen und ihr weiterer Lebensweg doch sind. Ich erinnere mich an ein älteres Paar, das Ringe für ihre Goldene Hochzeit erwerben wollte. Zu ihrer Vermählung hatten sie damals bei meinem Vater gekauft und freuten sich, dass unser Geschäft immer noch besteht. 50 Jahre später durfte ich den Beiden also noch einmal eine Freude machen. Das war einer der bewegendsten Momente.“
Die jungen Frauen hatten den Ausführungen gebannt gelauscht. Eine steile Falte grub sich zwischen Carmens Brauen. „Das ist wirklich alles sehr interessant und schön zu sehen, wie Sie Ihren Beruf lieben. Aber ich verstehe immer noch nicht, was das mit unseren Kindern zu tun hat, tut mir leid! Wenn Sie schon so großen Wert auf Ihre Exklusivität legen, dann verstehe ich nicht, wieso Sie ihnen wertvolle Ringe für zehn Euro verkauft haben.“
„Ich bin ganz ehrlich: Noch nie hat mich eine Liebesbekundung zweier Menschen so berührt, wie die von Maximilian und Katharina. Ihre Gefühle füreinander sind rein und unverfälscht. Sie haben mir versichert, dass sie heiraten werden, wenn sie erwachsen sind. Deshalb verlangten sie auch keine Kinderringe, denn erst zur Vermählung wollten sie die Schmuckstücke anlegen.“
Friedmann beugte sich vor und sah Carmen und Marion in die Augen.
„Ganz ehrlich, meine Damen, wie hätte ich da Nein sagen können?“
Marion blies die Backen auf. „Nun aber mal halblang! Sie erzählen hier irgendwas über Liebe und Heirat. Dabei handelt es sich um siebenjährige Kinder. Sie haben schon im Sandkasten miteinander gespielt und gehen jetzt zusammen zur Schule, weil wir zufälligerweise in derselben Straße wohnen. Glauben Sie wirklich, dass die beiden eine Vorstellung haben, was wahre Liebe ist. Wer weiß, ob sich ihre Wege nicht trennen.“
„Ich hatte von reiner und unverfälschter Liebe gesprochen. Meiner Meinung nach ein großer Unterschied zu Gefühlen zwischen erwachsenen Menschen. Ob sich Ihre Kinder tatsächlich ineinander verlieben, wenn in der Pubertät das andere Geschlecht interessant wird? Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Es gibt angeborene psychologische Mechanismen die verhindern, dass man sich in die Leute verliebt, mit denen man aufgewachsen ist, auch wenn man nicht blutsverwandt ist. Damit verhindert die Natur Inzest, denn in der Regel sind es eben Geschwister, die ihre Kindheit miteinander verbringen.“
„Dann ist mir erst recht unklar, warum Sie ...“
„Weil mich dieser Moment so bezaubert hat. Zwei Kinder, die gerade mal so groß sind, dass sie über die Verkaufstheke sehen können, gestehen sich ihre Liebe – oder was sie dafür halten. Um diesen Augenblick perfekt zu machen, bin ich darauf eingegangen. Ein einmaliger Moment in meinem Leben, der sich kaum wiederholen wird. Ich hoffe, diese Antwort genügt Ihnen. Sie sind immer noch skeptisch? Es tut mir leid, wenn ich Sie verwirrt habe. Lassen Sie mich einen Vorschlag machen. Ich werde die Ringe in unserem Safe verwahren bis Ihre Kinder volljährig sind. Danach können die beiden selbst entscheiden, was damit geschehen soll. Sind Sie damit einverstanden?“
Unschlüssig sahen sich Carmen und Marion an.
„Ich hoffe, das Wort das Sie suchen ist Ja.“

































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#2

RE: SGZ 40 "Zwei Liebende" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 03.10.2021 21:32
von Rieke.ke (gelöscht)
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@ Herbert Glaser,
eine bezaubernde Geschichte.
Dankeschön


Herbert Glaser hat sich bedankt!
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#3

RE: SGZ 40 "Zwei Liebende" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 08.10.2021 15:16
von -jek • Federlibelle | 711 Beiträge | 2145 Punkte

Verblüffend und originell. Oft lese oder schreibe ich Geschichten, die schon zig Mal so ähnlich geschrieben wurden. Diese gehört bestimmt nicht dazu. Dass Stil und Aufbau gelungen sind, muss ich bei dir eigentlich nicht erwähnen. Eine kleine Erbse: "Die jungen Frauen hatten den Ausführungen gebannt gelauscht." Ich kann mir nicht vorstellen, dass die beiden in diesem Augenblick "gebannt" zuhörten, doch eher verblüfft, erstaunt, verwirrt oder irritiert.


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Wenn du Schreibregeln beherrscht, ist das gut. Wenn sie dich beherrschen, ist das schlecht.
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#4

RE: SGZ 40 "Zwei Liebende" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 09.10.2021 08:44
von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.151 Beiträge | 9415 Punkte

Lieber Herbert, diese Geschichte, die Idee, die Umsetzung ist einfach wunderbar!
Danke dafür!
LG Charlotte ((((((-:


https://www.leseflamme.jimdofree.com

Unsere größte Schwäche liegt im Aufgeben. Der sicherste Weg zum Erfolg ist immer, es noch einmal zu versuchen.
Thomas Alva Edison
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#5

RE: SGZ 40 "Zwei Liebende" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 09.10.2021 09:56
von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte

Hallo Werner,

danke für das Lob!

Und der "gebannte" Hinweis ist absolut richtig, das Wort werde ich ersetzen.

Viele Grüße

Herbert


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#6

RE: SGZ 40 "Zwei Liebende" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 09.10.2021 09:57
von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte

Hallo Carlotta,

schön, dass ich dir eine Freude machen konnte.

Viele Grüße

Herbert


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#7

RE: SGZ 40 "Zwei Liebende" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 09.10.2021 13:37
von Gini • Federlibelle | 1.797 Beiträge | 3677 Punkte

@Herbert Glaser was für eine entzückende und bezaubernde Geschichte.
Das ist so rührend, diese beiden Kinder die sich lieben. Meine kleine Ella ist auch sieben
und hat mir erzählt, dass sie in ihre Freundin verliebt ist. Im Gegensatz zu deinen beiden Kindern
in der Geschichte, hat meine Enkelin gesagt, dass sie mit ihrer Freundin Frieda schon verheiratet ist.
Früher wollten die kleinen Mädchen doch immer ihren Papa heiraten. Ja, die Zeiten ändern sich.
Aber deine Geschichte ist etwas ganz besonderes.


Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.

Wilhelm Busch (1832-1908)
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#8

RE: SGZ 40 "Zwei Liebende" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 09.10.2021 14:18
von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte

Vielen Dank!


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#9

RE: SGZ 40 "Zwei Liebende" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 09.10.2021 14:37
von Doro • Federlibelle | 2.350 Beiträge | 9189 Punkte

Hallo @Herbert Glaser ,

"bezaubernd" ist der Ausdruck, der auch mir bei deiner Geschichte als erstes in den Sinn kam.


LG
Doro


Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)
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#10

RE: SGZ 40 "Zwei Liebende" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 09.10.2021 22:00
von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte
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#11

RE: SGZ 40 "Zwei Liebende" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 10.10.2021 21:32
von Bree • Federlibelle | 4.337 Beiträge | 17425 Punkte

Hallo @Herbert Glaser

es sollte viel mehr Menschen wie diesen Juwelier geben. Ein wirklich zauberhafte Story. Ich hatte so richtig vor Augen, wie die beiden Nasenspitzen über den Verkaufstresen reichten - und das, obwohl ich als Leser die Szene mit den Kindern gar nicht "live" erlebt habe.

Das Einzige, was mir auffiel, war der Name Friedmann. Er kam sehr spät und unverhofft, insbesondere deshalb, weil du die Story aus der Perspektive der beiden Frauen erzählst. Woher wissen sie also den Namen? Hätte er sich am Anfang vorgestellt, wäre alles ok. Dieser kleine Fauxpas lässt sich also leicht ausbügeln.

Danke für diesen schönen Beitrag!

LG
Bree


Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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Alles über meine Bücher & mich findet ihr auf meiner Website: www.brittabendixen.de
Einen eigenen Youtube-Kanal habe ich auch. Dort lese ich einige meine Geschichten.
Den Button findet ihr auf meinem Profil.
Herbert Glaser hat sich bedankt!
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#12

RE: SGZ 40 "Zwei Liebende" von Herbert Glaser

in Die Geschichten der Woche 10.10.2021 22:19
von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte

Danke für den Hinweis!


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