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SGZ 35 "Issur" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 30.08.2021 08:58von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte
Issur
von Herbert Glaser
Je näher das Ereignis rückte, desto nervöser wurde Issur. Hatte er genug trainiert, sich ausreichend vorbereitet? Heute würde sich seine Zukunft entscheiden. Er fixierte einen Krug, der auf einem als Tisch dienenden Baumstamm stand, und konzentrierte sich. Das Gefäß begann ganz leicht zu zittern, erhob sich, und schwebte zu Issur hinüber, der es mit einem zufriedenen Lächeln packte und einen großen Schluck daraus nahm. Er ließ den Blick durch die Höhle schweifen, die schon so lange sein Zuhause war. Halb von der Dorfgemeinschaft ausgestoßen, halb selbst die Einsamkeit suchend hatte er hier vor vielen Wintern sein Lager aufgeschlagen. Er war noch ein Kind, als er sich seiner außergewöhnlichen Gabe bewusst wurde. Bei einem Geschicklichkeitsspiel mit handgroßen Steinen wurde er regelmäßig besiegt. Er war schmächtig und ein beliebtes Ziel für Hänseleien. Die Wut auf seine eigenen Unzulänglichkeiten nagte an ihm. Bis er eines Tages bemerkte, wie er seine Gefühle auf ungewöhnliche Art einsetzten konnte. Als er bei dem Spiel wieder einmal im Hintertreffen war, wünschte er sich so sehr, die von ihm geworfenen Steine würden an der gewünschten Stelle landen, dass es tatsächlich geschah. Jedes Mal, wenn er einen Wurf machte, fixierte er den betreffenden Stein und gab ihm mit seinen Gedanken kleine Richtungsänderungen mit. Er hatte keine Ahnung, wie so etwas möglich war, aber es funktionierte. Es dauerte nicht lange und keines der anderen Kinder konnte ihn mehr besiegen. Issur wurde zwar nicht mehr gehänselt, aber bald wollte auch niemand mehr mit ihm spielen.
Er galt als Sonderling, dessen Gegenwart man besser meiden sollte, denn nicht wenige aus der Gemeinschaft hatten den Verdacht, er stünde mit bösen Mächten in Verbindung. Issur experimentierte unermüdlich und perfektionierte seine Fähigkeiten. Als er alt genug war, meldete er selbstbewusst den Führungsanspruch über das gesamte Dorf an. Er sei von den Göttern geschickt, daher unverwundbar und werde dies dem ganzen Volk beweisen.
Heute war der Tag gekommen, an dem er alle überzeugen würde. Auch die Skeptiker, die vorhatten, ihn zu töten. Issur schleuderte den Krug hinter sich, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und verließ die Höhle.
Die Menge hatte sich bereits unter dem Felsplateu versammelt, das den Vorplatz der Höhle bildete, und erwartete das Erscheinen des selbsternannten Anführers. Endlich trat Issur ins Freie. Ein Raunen war zu hören in das sich auch einige Buhrufe mischten. Issur ließ seinen Blick über die zahlreichen Gesichter schweifen, legte den Kopf in den Nacken und schloss kurz die Augen. Dann nickte er den vier bereitstehenden Bogenschützen zu und breitete die Arme aus. Die Pfeile wurden eingelegt, gespannt und gleichzeitig abgeschossen. Wie an einer Schnur gezogen, rasten die tödlichen Geschosse auf ihr Ziel zu – Issurs Brust. Der Jubel, den die Schützen anstimmen wollten, blieb ihnen im Hals stecken, als die Pfeile langsamer wurden und schließlich wenige fingerbreit vor Issur in der Luft stehen blieben. Triumphierend pflückte er einen Pfeil nach dem anderen wie reife Beeren von einem Strauch, nahm sie in beiden Hände, brach sie über dem Knie entzwei und schleuderte sie vom Felsen herab vor die fassungslosen Zuschauer. In entrückter Pose, die Arme ausgebreitet, den Kopf zurückgeworfen, blickte er in den Himmel. Dann erhob sich sein Körper mit majestätischer Geste vom Boden um über dem steinigen Untergrund zu schweben. Wenige Augenblicke später fielen die Zuschauer auf die Knie und senkten demütig ihre Köpfe. Issur hatte den Beweis seiner Göttlichkeit geliefert und würde von nun an spirituelles Oberhaupt und Anführer des Stammes sein. In den nächsten Tagen brachte man Nahrung, Kleidung und alle Arten von Geschenken zur Höhle, um dem neuen Oberhaupt zu huldigen.
RE: SGZ 35 "Issur" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 30.08.2021 11:29von Bree • Federlibelle | 4.476 Beiträge | 18171 Punkte
Lieber @Herbert Glaser
eine tolle Idee! Ein einfaches Volk und zwischen ihnen ein Mann mit telekinetischen Fähigkeiten. Die Formulierung, Issur pflücke die Pfeile wie Beeren von einem Strauch fand ich sehr gelungen und hatte die Szene direkt vor Augen. Spitze!
Einen Vorschlag hätte ich: Meistens hat so ein Außenseiter zumindest eine Person, die ihm nahesteht. Ein Freund, den älteren Mentor oder ein Familienmitglied. Wenn diese Person bei den Übungen am Anfang dabei wäre, könntest du diesen Teil
Zitat von Herbert Glaser im Beitrag #1
Halb von der Dorfgemeinschaft ausgestoßen, halb selbst die Einsamkeit suchend hatte er hier vor vielen Wintern sein Lager aufgeschlagen. Er war noch ein Kind, als er sich seiner außergewöhnlichen Gabe bewusst wurde. Bei einem Geschicklichkeitsspiel mit handgroßen Steinen wurde er regelmäßig besiegt. Er war schmächtig und ein beliebtes Ziel für Hänseleien. Die Wut auf seine eigenen Unzulänglichkeiten nagte an ihm. Bis er eines Tages bemerkte, wie er seine Gefühle auf ungewöhnliche Art einsetzten konnte. Als er bei dem Spiel wieder einmal im Hintertreffen war, wünschte er sich so sehr, die von ihm geworfenen Steine würden an der gewünschten Stelle landen, dass es tatsächlich geschah. Jedes Mal, wenn er einen Wurf machte, fixierte er den betreffenden Stein und gab ihm mit seinen Gedanken kleine Richtungsänderungen mit. Er hatte keine Ahnung, wie so etwas möglich war, aber es funktionierte. Es dauerte nicht lange und keines der anderen Kinder konnte ihn mehr besiegen. Issur wurde zwar nicht mehr gehänselt, aber bald wollte auch niemand mehr mit ihm spielen. Er galt als Sonderling, dessen Gegenwart man besser meiden sollte, denn nicht wenige aus der Gemeinschaft hatten den Verdacht, er stünde mit bösen Mächten in Verbindung. Issur experimentierte unermüdlich und perfektionierte seine Fähigkeiten. Als er alt genug war, meldete er selbstbewusst den Führungsanspruch über das gesamte Dorf an. Er sei von den Göttern geschickt, daher unverwundbar und werde dies dem ganzen Volk beweisen. Heute war der Tag gekommen, an dem er alle überzeugen würde. Auch die Skeptiker, die vorhatten, ihn zu töten.
im Dialog unterbringen, statt dem Leser alles auf diese Weise zu erklären. Auf die Art würde vielleicht auch Issurs Charakter deutlicher werden, du könntest seine Gefühle deutlich darstellen etc.
Nur so eine Idee. Auch so ist die Geschichte gut. Am Ende wäre es natürlich etwas spannender, wenn nicht gleich alles glattgeht, sondern etwas Unvorhergesehenes geschieht, das Issur den Schweiß auf die Stirn treibt. Weil er aufgeregt und unkonzentriert ist, vielleicht.
Du siehst, ich mache mir viele Gedanken. Das liegt daran, dass ich in dieser Story echt Potential sehe.
Gern gelesen!
LG
Bree
Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)
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RE: SGZ 35 "Issur" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 30.08.2021 11:32von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte
Hallo Britta,
danke für deine ausführlichen Anmerkungen!
Das werde ich alles in Betracht ziehen.
Viele Grüße
Herbert
RE: SGZ 35 "Issur" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 30.08.2021 19:06von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.245 Beiträge | 9969 Punkte
Hallo @Herbert Glaser!
Klasse, die Geschichte. von Issur und seinen telekinetischen Fähigkeiten, die ihn zu einer mächtigen Person seines Volkes werden lassen! In einem relativ kurzen Text hast du eine ziemliche Zeitspanne untergebracht!
LG
Carlotta Lila
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RE: SGZ 35 "Issur" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 30.08.2021 21:40von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte
RE: SGZ 35 "Issur" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 30.08.2021 22:58von Ranito • Forums-Schmetterling | 156 Beiträge | 419 Punkte
Die Geschichte von und mit Issur fand ich so realistisch, dass ich in Wikipedia nachschauen musste, ob es nicht vielleicht eine Sage oder eine Legende um dieses "spirituelle Oberhaupt" gibt. Wie es ausschaut hast Du Issur und die Erzählung von ihm frei erfunden! Sehr beeindruckend!
-- + —
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* DANKE * für jeden neuen Tag - jeden Moment - jede Geste - jede Reaktion, den/die ich erleben darf! Doch wem darf ich eigentlich * DANKE * sagen? Ich wüsste es so gerne ... Alles nur durch Zufall entstanden, wie es so ist? Nein, das kann nicht möglich sein! Gut, dass uns Menschen zumindest dieses Geheimnis bis heute verborgen bleibt. Der Glaube ist ganz sicher ein guter Lösungsansatz! Träumen wir weiter und hoffen auf ein gemeinsames Leben ... auch danach. Für hier und bis jetzt in jedem Fall erst einmal: * DANKE *
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RE: SGZ 35 "Issur" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 31.08.2021 08:19von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte
Hallo Ranito,
ja, die Geschichte ist frei erfunden.
Nur beim Namen Issur habe ich recherchiert.
Es ist ein alter Name und bedeutet "Ringt mit Gott".
Hat mir gefallen.
Viele Grüße
Herbert
RE: SGZ 35 "Issur" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 01.09.2021 15:18von Gini • Federlibelle | 1.809 Beiträge | 3714 Punkte
@Herbert Glaser ein wirklich interessanter Text. Da hattest du eine super Idee.
Tatsächlich waren früher Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, wohl
ausgestoßene der Gesellschaft. In welchem Jahrhundert spielt deine Geschichte?
Meine Kinder haben früher als Jugendliche Gläserrücken, oder hieß es anders, gemacht.
Das fand ich schon etwas geheimnisvoll.
Tissur hat auf jeden Fall die Position des Oberhauptes erreicht.
Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.
Wilhelm Busch (1832-1908)
RE: SGZ 35 "Issur" von Herbert Glaser
in Die Geschichten der Woche 01.09.2021 16:18von Herbert Glaser • Federlibelle | 664 Beiträge | 1233 Punkte
Hallo Gini,
ich hatte beim Schreiben die lokalen Gottheiten der Anden im Kopf, die in manchen abgelegenen Gebieten bis heute angebetet werden.
https://de.wikipedia.org/wiki/Wak%27a
https://de.wikipedia.org/wiki/Ayllu
Viele Grüße
Herbert
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