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SGZ 30 - Die Ameise
in Die Geschichten der Woche 26.07.2021 20:34von Anka • Federlibelle | 763 Beiträge | 3377 Punkte
Ihr ging das alles auf die Nerven. Diese Hast. Diese ständige Geschäftigkeit. Dieses Gerenne. Morgens, mittags, abends. Tagein, tagaus. Es war immer das Gleiche. Sie wollte das nicht mehr. Kam nur nachts dazu, sich zu entspannen. So wie jetzt. Heimlich hatte sie sich aus dem Nest geschlichen und saß auf einem Stein zwischen hohen Tannen. Ihre Fühler zitterten nervös, doch niemand von ihrer Sippe schien sie bemerkt zu haben. Alle hatten sich in den aus Tannennadeln und Zweigen aufgeschichteten Hügel zurückgezogen und schliefen. Sammelten Kräfte für den neuen Tag. Um fit zu sein für die große Aufgabe, die alle instinktiv antrieb. Auch sie hatte heute von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang Äste geschleppt. Von unten nach oben. Von oben nach innen. Und wieder von vorn.
Der kalte Stein kühlte ihre geschundenen Füße. Die Nacht war still, kein Lüftchen wehte. Am sternenklaren Himmel stand der Mond und glitzerte in ihren Facettenaugen. Sie liebte den Mond. Er strahlte das aus, was sie in der Gemeinschaft, in der sie lebte, vermisste: Unendliche Ruhe. Er hatte Zeit. Unbegrenzt. Jahrhunderte, Jahrtausende und noch viel mehr. Jeden Monat einmal, wenn sie Glück hatte und die Wolken den Blick freigaben, schaute sie zu ihm hoch und las in seinem runden Gesicht. Es schien, als wolle er ihr etwas zurufen und war dabei erstarrt. Sie lauschte. Vielleicht musste sie warten um ihn zu hören. Wenn sie ihn lange genug beobachtete, konnte sie sehen, wie er sich bewegte. Mit einer beneidenswerten Langsamkeit verfolgte er seinen Weg und stieg bis über die Wipfel der Tannen. Ohne dabei sein Gesicht zu verändern. Seine Augen waren rund und groß. Nicht ein Zwinkern störte die Ruhe seines Blickes. Sein Mund war zu einem großen „O“ geformt, nicht zusammengepresst, wie ihre Lippen. Vielleicht sang er ein Lied? Sie könnte es auch einmal versuchen. Obwohl sie ihn nicht hörte, begann sie zu summen. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, eins zu sein mit ihm. Sie schaute ihn an und fühlte, wie sich der tiefe beruhigende Ton in ihr ausbreitete. Gern wäre sie dem Mond gefolgt, auf seinem gemächlichen Weg über den Himmel. Aber sie wusste, es war nicht ihre Bestimmung. Ihr Platz war in der Gemeinschaft. Sie wurde dort gebraucht. Aber diesen Ton konnte sie mitnehmen. Und schon morgen würde sie innehalten, um ihn zu spüren.
Geschichten schreiben ist wie zaubern!
www.writeandride.de
Schöne Idee, flott geschrieben, gern gelesen. Danke für diesen kurzen Ausflug in die Welt der ganz kleinen Leute.
Ich mag Ameisengeschichten sowieso, und diese Fabel finde ich besonders berührend, weil ich mich selbst oft dabei ertappe, im Ameisen-Modus "morgens, mittags, abends, tagein, tagaus" zu arbeiten und mir über der ganzen Geschäftigkeit viel zu selten die Zeit für einen kleinen Plausch mit Großmutter Mond (oder anderen netten Leuten) nehme ...
RE: SGZ 30 - Die Ameise
in Die Geschichten der Woche 27.07.2021 08:41von Herbert Glaser • Federlibelle | 666 Beiträge | 1235 Punkte
RE: SGZ 30 - Die Ameise
in Die Geschichten der Woche 27.07.2021 12:27von Gini • Federlibelle | 1.837 Beiträge | 3792 Punkte
@Anka eine schöne besinnliche Geschichte über den Mond.
Und ja, die Ameisen müssen ganz schön schuften. Und dann will man
sie immer nicht haben, wenn sie auf der Terrasse rumwuseln.
Ich hab das Buch "Miese Karma" von Davis Safir gelesen. Da wurde sie als erstes auch
in eine Ameise verwandelt. Und sie musste ganz schön schuften.
Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.
Wilhelm Busch (1832-1908)
RE: SGZ 30 - Die Ameise
in Die Geschichten der Woche 28.07.2021 12:38von Bree • Federlibelle | 4.647 Beiträge | 19106 Punkte
Liebe @Anka
eine bezaubernde Idee, uns mal in die Ameisen-Welt zu entführen. Wenn ich auch gestehe, dass mein Verhältnis zu diesen Tierchen ambivalent ist. Ich bewundere sie für ihren Eifer und ihre Disziplin, doch neulich haben sie unser Gästebad erobert, da musste ich ihnen leider mit Chemie zu Leibe rücken, da sie sich freiwillig nicht wieder verdünnisieren wollten. Es waren diese großen mit den Flügeln ... Nicht schön!
Deine Story dagegen ist schön. Sie zeigt uns auf charmante Art einen Einblick in eine Welt, die mit unserer offenbar so einiges gemein hat, und macht uns gleichzeitig darauf aufmerksam, dass es wichtig ist, bewusste Pausen einzulegen. Hier neben meinem Schreibtisch hängt ein Zettel, auf dem steht ein passender Spruch: "Manchmal ist es an der Zeit, sich Zeit zu nehmen."
Danke für diese Geschichte!
LG
Bree
Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)
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Alles über meine Bücher & mich findet ihr auf meiner Website: www.brittabendixen.de
RE: SGZ 30 - Die Ameise
in Die Geschichten der Woche 29.07.2021 01:15von Doro • Federlibelle | 2.515 Beiträge | 9876 Punkte
Liebe @anka ,
gefällt mir gut deine Fabel. Ich mag Geschichten gern, die nicht nur unterhalten, sondern eine Botschaft haben. Ab und zu innehalten, sich eine Auszeit nehmen, das vergisst man im Alltagstrott manchmal. Und eine Ameise als Prota zu nehmen, finde ich eine schöne Idee. Ein winziges Tierchen stupst uns mit der Nase darauf.
Sehr gern gelesen.
LG
Doro
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)
RE: SGZ 30 - Die Ameise
in Die Geschichten der Woche 30.07.2021 09:14von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.300 Beiträge | 10272 Punkte
Liebe @anka, die Ameisengeschichte gefällt mir sehr.
Mir scheint ja oft - da bin ich sicher nicht allein - wir Menschen haben mehr mit Ameisen (oder auch Bienen ) zu tun, als wir glauben! Ausser, dass wir nicht annähernd so nützlich sind, wie diese Insekten.
Sich Zeit nehmen und sich umzuschauen, was Natur und die Gestirne uns sagen, vielleicht bringt uns das auf einen guten Weg!
Danke für diesen Text!
Carlotta Lila
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