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Leseprobe aus Cuprum von moriazwo
in Auszüge aus unseren Büchern 14.01.2025 16:59von moriazwo • Federlibelle | 358 Beiträge | 1312 Punkte
Näheres zu diesem Romanprojekt habe ich schon in meinem "Bücherstand" geschrieben. Wer noch einmal nachschauen will, worum es geht, kann es HIER nachlesen.
Inhalt der Leseprobe:
1.1 Heiligabend Teile -1- -2- -3-
1.2 Kein Kontakt Teile -1- -2-
1. Ilha das Flores
1.1 Heiligabend - Teil 1/3
Es war früher Morgen, als ich mit meinem Fahrrad die letzte Steigung nach Farol de Albarnaz nahm. Bis zur Brücke über den Moinho war es immer recht angenehm, zu fahren, doch das restliche Stück verlangte mir jedes Mal einiges ab. Im Grunde mochte ich es, so früh unterwegs zu sein. Es half mir, den Kopf freizubekommen und mich auf die Arbeit vorzubereiten. Es war dunkel und der Scheinwerferkegel des Rades tanzte mit jedem Tritt in die Pedalen über das rissige Pflaster der schmalen Straße. Das Meer zu meiner Rechten rauschte leise und trotz der Anstrengung genoss ich den milden Dezember dieses Jahres. Früher, in Deutschland, wäre ich zu dieser Zeit nicht auf die Idee gekommen, nur mit einer relativ dünnen Jacke bekleidet, mit dem Rad zur Arbeit zu fahren. Das Meer war nur durch die leise Brandung zu erahnen, denn zu dieser Stunde präsentierte es sich in absoluter Schwärze. Früher hätte man die vorbeifahrenden Schiffe wie die Perlen einer imaginären Kette erkannt, doch das hatte inzwischen fast vollständig aufgehört.
In der Ferne erahnte ich schon die Außenbeleuchtung der Station und den Leuchtturm, nach dem dieser Platz benannt war. Dort lag meine Arbeitsstätte - ein Ort am Ende der Welt, in der Mitte von nirgendwo.
Ich legte mich ins Zeug, um die letzten Meter bis zum Parkplatz zu schaffen. Oben angekommen stellte ich mein Zweirad unter ein Vordach, das ursprünglich für die Autos der Angestellten vorgesehen war, aber heute fuhren - wenn überhaupt - nur Lastwagen und die Carports wurden anderweitig genutzt.
Nach der Dunkelheit des Weges und dem trüben Lichtkegel meiner Lampe stach das grelle Licht auf dem Parkplatz vor dem Stationsgebäude fast schmerzhaft in den Augen. Das Gebäude war keine Schönheit - halt ein Zweckbau, und die GulfGen-Corporation hatte seinerzeit sicher anderes im Sinn als ein gefälliges Design. Es war eben ein kalter, hässlicher Betonklotz. Ich betrat das Gebäude und lief sofort in die Messwarte, weil ich sicher war, dass mein Kollege Ronald auf seine Ablösung wartete.
Die Messwarte war ein großer, quadratischer Raum ohne Fenster, der mit Anzeigeinstrumenten übersät war. Ronald hatte die Deckenbeleuchtung abgeschaltet und so wurde der Raum nur gespenstisch durch die vielen Instrumentenbeleuchtungen etwas erhellt. Mein Kollege saß in seinem Drehsessel und schwang darin zu mir herum, als er mich bemerkte.
»Du hast das Licht draußen brennen lassen«, begrüßte ich ihn. Es war eine Art von Running Gag zwischen uns, denn elektrische Energie war das Einzige, woran auf Flores kein Mangel herrschte.
»Wie unaufmerksam von mir«, entgegnete Ronald lachend. »Du bist früh dran, heute.«
»Ach, ich konnte nicht mehr schlafen und da dachte ich, dass du es mir nicht übel nehmen würdest, wenn ich dich ablöse.«
Ronald grinste. »Worauf du einen lassen kannst. Aber mal im Ernst: In deiner Situation wäre ich garantiert nie so pünktlich hier wie du. Habt Ihr etwa Probleme?«
»Mach dir keine Hoffnungen, du Casanova. Zwischen Marina und mir ist alles in Ordnung. Das darfst du mir glauben.«
Ronald seufzte. »Man wird doch noch träumen dürfen. Ich hab sowieso nie verstanden, was sie an dir findet - wo sie doch einen Kerl wie mich haben könnte.«
»Tja, vielleicht bist du doch nicht der Adonis, der du gern sein möchtest. Vielleicht solltest du am Wochenende mal nach Ponto Delgada kommen. In manchen Lokalen gibt es Tanz, und soweit ich gehört habe, besteht fast immer Mangelware an netten, jungen Männern. Aber ich habe das Gefühl, dass du dich nicht traust.«
»Ich? Mich nicht trauen? Das sagt so ein schüchternes Bürschchen wie du?«
Ich lachte. »Ich hab nie behauptet, ein Weiberheld zu sein. Komm einfach am Wochenende bei uns vorbei und wir gehen zusammen in eines der Lokale, die Marina kennt. Da ist sicher für dich was Passendes dabei.«
Er verzog das Gesicht und wandte sich dem Kontrollpult zu. Ich wusste, dass er meine Frau mochte, und auch, dass alles Gerede nur Spaß war. Er fühlte sich einsam und konnte nicht aus seiner Haut heraus - genau wie ich, nur dass Marina mich aus meinem Gefängnis befreit hatte. Ronald war offenbar nicht bereit, das Thema weiterzuführen, daher wurde ich dienstlich.
»Gab es während deiner Schicht Besonderheiten?«
»Turbine 9 hatte ein paar Aussetzer. Ich konnte die Spannung aber durch Lastverteilung über die Reserveturbinen konstant halten. Ich hab Sea-Eye vorbeigeschickt.«
»Und? Hat die Drohne etwas herausgefunden?«
»Es war nur ein dicker Ballen Seetang, der sich am Rotor verfangen hatte und ihn gebremst hat. Nichts Ernstes, aber wir sollten das Wartungsteam mit dem U-Boot dort hin beordern. Ich möchte die Reserveturbinen nicht zu lange in Betrieb halten.«
»Das muss ja auch nicht sein. Wir hatten in den letzten Wochen dauernd diesen verdammten Tang in den Turbinen. Wir sollten über Abschirmungen nachdenken.«
Ronald lachte humorlos auf. »Tolle Idee. Und wo willst du das Material dafür herbekommen?«
»Ja, ich weiß. Es kommen aber sicher wieder bessere Tage.«
»Sicher?«
»Was heißt sicher? Es muss einfach wieder besser werden!«
Wir schwiegen einen Moment, bis Ronald sagte: »Du denkst daran, dass um zehn der turnusmäßige Funkspruch mit São Miguel fällig ist?«
»Na klar. Ich mach das schon. Sieh du zu, dass du in die Koje kommst und etwas Schlaf bekommst.«
Ronald erhob sich träge und streckte seine Glieder. Dabei gähnte er herzhaft. »Weißt du was? Genau das werde ich jetzt tun. Ich überlass dich deinem Schicksal. Du kannst mich aber jederzeit anfunken, wenn es hier brennt. Aber bitte auch nur dann.«
Ich winkte ab. »Hau einfach ab. Was soll schon geschehen? Schlaf dich aus - wir sehen uns später.«
Ronald grinste und zog seine alte, speckige Jacke über. »Wenn man so nett gebeten wird, ziert man sich nicht länger. Bis später dann.«
Er hob grüßend die Hand und verließ die Messwarte. Ich ließ mich auf den Drehsessel gleiten, auf dem Ronald eben gesessen hatte, und stellte ihn für meine Größe ein. Auf dem Monitor der Eingangskamera sah ich ihn zu seinem Fahrrad gehen. Als wüsste er, dass ich ihn beobachte, grüßte er militärisch mit der Hand, bevor er aufs Rad stieg und den Parkplatz verließ. Nun war ich allein. Bis die Wartungsteams kamen, dauerte es ein paar Stunden - Zeit genug, alle Systeme in Ruhe zu checken. Ich lief in die kleine Teeküche, die neben der Messwarte gelegen war, und stellte zufrieden fest, dass Ronald eine große Kanne Kaffee gekocht hatte. Noch gab es genug davon auf Flores, aber was käme, wenn die ersten gravierenden Versorgungslücken entstanden? Ich füllte mir einen Becher und schlenderte zurück zu meinem Sessel. Die trübe Beleuchtung machte mich müde, also schaltete ich das Deckenlicht ein. Auf dem Pult lag die Checkliste, die ich durcharbeiten musste. Ein flüchtiger Blick darauf sagte mir, dass die Probleme an Turbine 9 das Einzige war, das in Ronalds Schicht vorgefallen war. Routinemäßig ging ich die einzelnen Positionen durch und nach einer knappen Stunde war ich damit fertig. Jetzt drang die Müdigkeit wieder durch - vermutlich der Tribut an das frühe Aufstehen am Morgen. Ich nickte ein, wissend, dass die automatischen Sensoren an unseren unterseeischen Generatoren sofort Alarm auslösen würden, wenn etwas Unvorhergesehenes geschah.
Erst das durchdringende Piepsen des Funkgeräts ließ mich aus meinem Schlaf hochschrecken. Die große Uhr über dem Messpult zeigte zehn Uhr - es war der Routineruf von unserer Zentrale auf der Hauptinsel São Miguel.
Hektisch drückte ich auf den Knopf für die Rufannahme. »Messwarte auf Flores, Ferdinand Menzel hier.«
»Na, hab ich dich geweckt?«, drang es aus dem Lautsprecher, und es folgte ein wissendes Lachen. »Hier ist Sebasto Pereira, GulfGen-Labor Achada, São Miguel. Wie geht es euch?«
»Danke der Nachfrage«, sagte ich lachend. »Mensch, Sebasto, wir haben uns ja ewig nicht mehr gesprochen. Wenn ich das nächste Mal auf São Miguel bin, sollten wir mal zusammen einen trinken gehen. Bist du noch immer mit dieser kleinen Schwarzhaarigen zusammen?«
»Constanzia? Nun, wir haben im Oktober geheiratet, wenn du das meinst.«
»Meinen Glückwunsch, Sebasto.«
»Danke. Und wie ist es bei dir? Noch immer der einsame Wolf?«
»Als einsamen Wolf hab ich mich eigentlich nie empfunden. Aber nein, ich bin nicht mehr solo. Ich bin seit ein paar Monaten ebenfalls verheiratet.«
»Ach, mach keinen Quatsch! Du hast doch immer gesagt, dass du von Flores weg bist, sobald sich wieder eine Gelegenheit ergibt - und nun heiratest du sogar eines von unseren Mädels? Wie heißt sie denn?«
»Marina. Und, wie du dir denken kannst, bin ich gar nicht mehr so scharf darauf, hier wegzukommen.«
Sebasto lachte. »Ja, die Azoren haben durchaus ihre Reize, was? Aber mal was anderes: Gibt es bei euch Besonderheiten? Laufen die Generatoren? Wie sieht es an der Ersatzteilfront aus?«
»Alles im grünen Bereich. Die Unregelmäßigkeiten betreffen meist nur Tang, der sich in den Rotoren verfängt. Das bekommen die Wartungsteams immer schnell in den Griff. Die U-Boote sind in Ordnung. Ersatzteile haben wir während der letzten Wochen nur wenige gebraucht. Der Bestand ist auch noch reichlich. Was uns fehlt, sind Masten.«
»Masten?«
»Ja, wir leben ja auf einer sehr kleinen Insel und haben entschieden, sie, soweit es geht, zu elektrifizieren. Wir haben so viel von diesem verdammten Strom und können ihn nicht unter die Leute bringen. Wir haben kilometerweise Kabel, aber kaum Masten, um es zu verlegen. Wir können ja schlecht alle Bäume auf Flores dafür fällen.«
Sebasto schwieg einen Moment. »Eure Idee ist nicht schlecht, aber wir können euch keine Masten liefern. Da müsst ihr schon selbst sehen, wie ihr zurechtkommt. Die Vorräte an brennbaren Treibstoffen werden nicht mehr lange reichen. Da wäre es schon gut, so viele Haushalte wie möglich an das Versorgungsnetz anzuschließen. Ich werde diesen Vorschlag auch mal in der nächsten Nachmittagsbesprechung vorbringen. Das wäre eventuell auch was für São Miguel.«
Jedes Mal, wenn ich mit den Leuten in Achada sprach, dachte ich an meine Familie, die im fernen Deutschland lebte - sofern sie noch am Leben war. Achada hatte mitunter schon mal Kontakt zum Festland. Die Insel lag eben fünfhundert Kilometer näher am Festland als Flores. »Sag mal, habt ihr etwas aus Europa gehört?«
»Ja, das haben wir tatsächlich. Wir hatten erst gestern Funkkontakt zu einem privaten Funker in Spanien und mit einem in Stockholm. Keine Ahnung, wie lange die noch Kontakt halten können. Ich kann dir sagen, dass wir es wirklich nicht schlecht getroffen haben. Die Situation auf dem Festland ist katastrophal. Die ersten beiden Weltkriege waren ja schon schlimm genug, aber dieser Krieg hat eine ganz andere Qualität. Diesmal haben sie uns in die Steinzeit zurückgeworfen. Na ja, nicht wirklich, aber den Menschen wird es so vorkommen. Regierungen gibt es im Grunde nicht mehr. Alle, die behaupten, die Ordnung wiederherstellen zu wollen, sind eigentlich Führer von irgendwelchen Milizen, die selbst jetzt noch eine Scheibe vom Kuchen abhaben wollen. Sie haben noch nicht begriffen, dass sie auf dem letzten Ast sitzen, der noch am Baum ist, und sägen fleißig daran herum.«
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RE: Cuprum
in Auszüge aus unseren Büchern 14.01.2025 17:02von moriazwo • Federlibelle | 358 Beiträge | 1312 Punkte
1.1 Heiligabend - Teil 2/3
»Also stimmt es, dass die gesamte Technologie nicht mehr funktioniert?«
»So ist es. Alles, was mit Kupfer zu tun hat, ist nur noch bröseliger Dreck. Leiterplatinen in Computern, Stromleitungen, Wicklungen in Motoren, einfach nichts funktioniert mehr. Die Kommunikation ist quasi vollständig zum Erliegen gekommen, die Versorgung der Städte klappt nicht, sie haben keine medizinische Versorgung mehr. Diese verdammten Naniten haben ganze Arbeit geleistet.«
»Weiß man denn inzwischen, wo diese Dinger hergekommen sind? Wir hatten alle Angst vor nuklearen Waffen und nun werden wir von - kaum sichtbaren - Winzlingen in die Knie gezwungen.«
»Da hast du Recht, Ferdi. Aber es gab sehr wohl auch nukleare Zwischenfälle. Man machte zwar immer Terroristen dafür verantwortlich, als die Reaktorkerne in Olkiluoto in Finnland oder Flamanville in Frankreich durchbrannten, oder die Explosion beim Zwischenlager für Brennelemente in Brokdorf, aber ich bin fast sicher, dass es auch diese Naniten gewesen sein können, die das Steuer- und Kontrollsystem der Kraftwerke zerstört haben können. Wir haben es schlichtweg verbockt - ich meine: wir Menschen haben es verbockt. Wir sind so unglaublich verbohrt darin, unsere Vorteile zu nutzen, dass wir nie die Konsequenzen bedenken. Wir können uns nur glücklich schätzen, dass wir hier auf den Azoren so unwichtig waren, dass uns niemand beschossen hat.«
»Habt ihr diese Informationen nur durch diese Funkkontakte erhalten?«
»Na ja, nicht ganz. Du weißt ja selbst, welche Möglichkeiten wir hier in Achada haben. Einer unserer Softwarespezialisten hat früher mal für amerikanische Nachrichtendienste gearbeitet. Er hat uns erst kürzlich gestanden, dass er für die Steuerung von Spionagesatelliten zuständig war und gewisse Backdoors in seinen Programmen habe. Er meinte, dass es gang und gäbe wäre, und viele Programmierer sowas als eine Art von Signatur empfinden. Durch ihn kamen wir an das alte Satellitensystem der USA heran und konnten uns selbst ein Bild von der Situation in Europa und der übrigen Welt machen. Es sieht schlecht aus.«
»Könnt ihr uns die Steuercodes und Zugangscodes für die Satelliten schicken?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Wir würden uns auch gern mit unseren eigenen Augen ein Bild machen.«
»Ich weiß nicht ... ich müsste erst ...«
»Sebasto?«
»Ja?«
»Worin siehst du ein Problem? Die Amis werden wohl kaum im Augenblick Verwendung für die Dinger haben. Und sitzen wir nicht im selben Boot?«
»Hmm, ja du hast Recht. Weißt du was? Ich schick dir eine codierte Textmeldung. Lass deinen Empfänger eingeschaltet ... Gib mir ein paar Minuten.«
»Kein Problem. Und ... danke Sebasto.«
»Wir sind doch Freunde. Du musst uns mit deiner Frau mal besuchen kommen, wenn ihr nach São Miguel kommt.«
»Versprochen.«
»Aber wo wir gerade darüber sprechen: Du hast mir nie erzählt, wieso du ursprünglich unbedingt wieder zurück nach England wolltest.«
Ich grinste. Sebasto wollte mich nicht von Haken lassen. Aber warum ein Geheimnis daraus machen?
»Du weißt, dass ich meinen Abschluss in Elektrotechnik in Hannover gemacht habe. Dort bin ich aufgewachsen und dort lebt - hoffentlich - noch meine Familie. Schon im letzten Teil meines Studiums galt mein besonderes Interesse den Gezeitenkraftwerken, die man vor Cornwall und in der Irischen See errichtet hatte. Der Gedanke, an einem solchen Projekt beteiligt zu sein hatte mich fasziniert. So schwer es mir auch fiel, aber in Deutschland gab es solche Kraftwerke nicht, also musste ich meine Heimat verlassen.«
»Dieses Schicksal teilen aber viele Menschen, Ferdi. Damit stehst du nicht allein.«
»Stimmt, aber ich bin ziehmlich behütet in meiner elterlichen Familie aufgewachsen und da war der Schritt, nach Großbritannien zu ziehen, für mich schon ein recht großer. SeaGen Incorporated in Bristol war für mich ein tolles Betätigungsfeld und als Stadtpflanze fühlte ich mich in dieser Stadt wohl. Ich hatte gerade begonnen, erste Wurzeln zu bilden, als man mir empfahl, portugiesisch zu lernen.«
»Wie schrecklich«, entgegnete Sebasto lachend.
»Hör auf, du alter Spötter! Das war eine Scheißarbeit, neben dem Job noch eine Sprache zu lernen, die für eine deutsche Zunge nicht leicht zu sprechen ist. Und es hieß ja zunächst nur, es ginge um die Kommunikation mit den Leuten der neuen Anlage auf den Azoren. Gehört hatten wir alle davon und mir war durchaus klar, dass ich irgendwie damit zu tun haben würde.«
»Und plötzlich hieß es: Ab auf die Azoren. Und das war so schrecklich für dich?«
»Ganz ehrlich? Ja. Du ahnst nicht, wie sauer ich war. Natürlich war es eine Beförderung, aber sie kam mir vor wie eine Strafversetzung. Vielleicht verstehst du das nicht, aber ich war ein Stadtmensch und dann ... Flores ist ein Fliegenschiss im Atlantik.«
»Na hör mal!«, entrüstete sich Sebasto.
»Ich will dir doch nur verdeutlichen, wie ich das damals empfand. Hätte ich damals die Wahl gehabt, ich wäre mit derselben Maschine wieder zurückgeflogen.«
»Und das willst du heute nicht mehr. Dann lass mal hören. Wie hast du deine Frau kennen gelernt?«
Sebasto war unmöglich. »Du bist neugierig und indiskret.«
Sein Gelächter drang aus dem Lautsprecher des Funkgerätes. »Ach scheiß drauf, Ferdi! Ziehr dich nicht und erzähl schon. Wenn eines von unseren Mädels einen Schwerenöter wie dich so sehr verändern kann, will ich Einzelheiten. Also?«
»Na gut. Ich musste eines Tages mit unserem Geländewagen nach Santa Cruz, um Vorräte zu kaufen. Santa Cruz ist ein Nest, aber es gab dort einen Gemischtwarenladen, von dem unser Kollege Grover in höchsten Tönen schwärmte. Dort sollte man angeblich alles bekommen, was man brauchte. Nachdem ich den Laden betreten hatte, wusste ich plötzlich nicht mehr, was ich eigentlich kaufen wollte. Da stand sie hinter der Theke: Eine junge Frau mit langen, schwarzen Haaren, ein Gesicht wie ein Engel, die mit einer Kundin mit sanfter, wohlklingender Stimme sprach. Ich muss sie wohl angestarrt haben, denn ich erntete von ihr einen irritierten Blick, wobei sie ihre Stirn runzelte.«
»Und da hast du sie gleich angesprochen?«
»Du kennst mich. Dazu war ich viel zu schüchtern. Als ich an der Reihe war, bestand meine Bestellung aus gesammeltem Stammeln. Ich glaube, ich habe mich damals richtig zum Affen gemacht. Marina jedenfalls hat sich köstlich amüsiert und mir war es peinlich. Ich war damals sogar froh, als ich den Laden wieder verlassen konnte. Allerdings musste ich sie wiedersehen. Drei Einkäufe später fragte ich sie dann, ob sie mit mir ausgehen würde - und sie sagte ja.«
»Das war alles?«
Ich schüttelte meinen Kopf, obwohl er das nicht sehen konnte. »Was willst du denn noch hören?«
»Ferdi, auf den Azoren heiratet niemand so einfach ein Mädchen. Wie hast du die Hürde ihrer Eltern genommen? Du bist Ausländer. Gab das keine Probleme?«
Ich stieß zischend Luft durch die Zähne. »Anfangs schon. Carlos, mein Schwiegervater, benahm sich anfangs, als wäre ich sein Gegner. Meine Schwiegermutter mochte mich, aber ich spürte bei ihr, dass sie Angst hatte, ich könnte ihre Tochter schwängern und sie dann sitzenlassen. Ich hielt dann offiziell bei Carlos um die Hand von Marina an. Ich musste ihm versprechen, dass wir uns katholisch trauen lassen würden und ich musste mit ihm eine ganze Flasche selbst gebrannten Medronho leeren. Mein Schädel fühlte sich danach schrecklich an.«
»Mein Mitleid hält sich in Grenzen. Eine Hochzeit mit Medronho besiegeln ... Ich finde, du bist gut dabei weggekommen.«
»Kann man so sagen. Am nächsten Morgen nahm er mich in die Arme wie einen alten Freund und wollte wissen, wann wir zu heiraten gedachten. Und dann hat er mir ins Ohr geflüstert, dass er mich kastrieren würde, wenn ich seiner Tochter jemals wehtun würde. Ich muss saublöd geschaut haben, denn er hat gelacht, bis ihm die Tränen kamen. Nachdem er sich beruhigt hatte, drückte er mich erneut an sich und meinte, er habe jetzt einen Sohn dazubekommen. Da begriff ich, dass ich endlich angekommen war.«
»Eine schöne Geschichte. Ich werde dir meine erzählen, wenn wir uns mal treffen. Aber ich rate dir, die Warnung deines Schwiegervaters ernst zu nehmen.«
»Ich würde Marina niemals wehtun. Ich denke, dass ich mit der Warnung leben kann.«
»Okay, dann bis zum nächsten Anruf. Ich bin jetzt weg, aber erst abschalten, wenn die Textmeldung bei dir eingetroffen ist.«
Es knackte und Sebasto hatte sich ausgeklinkt. Diese Routinemeldungen waren meist die einzigen Kontakte, die wir zu unserer Zentrale auf der Hauptinsel hatten. Es waren etwa fünfhundert Kilometer über den Ozean bis dorthin und diese Entfernung legte man nicht mal eben zurück - zumal jetzt nicht, wo Treibstoff immer mehr zur Mangelware wurde. Es gab zwar inzwischen wieder einige Segler, aber in diesen kleinen Schiffen über den Atlantik zu segeln, war nicht jedermanns Sache. Meine war es jedenfalls nicht.
Ein akustisches Signal ertönte und zeigte an, dass eine Textmeldung eingegangen war. Ich ließ die Datei ausdrucken und hielt nur wenig später einige Seiten in der Hand, die mit ‘Hieroglyphen’ übersät waren. Grover, unser Softwarespezialist und Elektroniker, konnte sicher etwas damit anfangen. Ich wollte ihm gleich bei der nächsten Ablösung die Unterlagen in die Hand drücken.
Der Rest meiner Schicht verlief recht ereignislos. Etwas Abwechslung gab es, als die Jungs vom Wartungsdienst kamen. Ich erzählte ihnen, dass Turbine 9 Schwierigkeiten hatte und sie machten sich mit einem der Klein-U-Boote auf den Weg zum Strömungskraftwerk. Ein paar Stunden später erschien Grover Lambert, um mich abzulösen.
»Hi Ferdi!«, rief er vom Eingang aus. »Alles klar mit unserem Baby?«
»Alles grün, Grover. Turbine 9 hatte ein Problem, aber die Jungs sind schon dabei, es in Ordnung zu bringen.«
»Cool, dann kann ich ja gleich ein Schläfchen machen, oder?«
Ich grinste, da ich genau wusste, dass er das niemals tun würde. Grover war ein Workaholic und suchte sich Arbeit, wenn er keine hatte. Ich hielt ihm die Ausdrucke hin, die ich erhalten hatte.
»Was ist das?«
»Hab ich von Sebasto bekommen. Es sollen Zugangs- und Steuercodes sein. Für mich ist das Fach-Chinesisch, aber du solltest damit was anfangen können.«
Stirnrunzelnd blickte er auf die Seiten und blätterte von Zeit zu Zeit um. Später setzte er sich und sah mich an. »Kannst du mir sagen, was man hiermit steuert?«
»Angeblich Spionagesatelliten der Vereinigten Staaten.«
»Im Ernst?«
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RE: Cuprum
in Auszüge aus unseren Büchern 14.01.2025 17:02von moriazwo • Federlibelle | 358 Beiträge | 1312 Punkte
1.1 Heiligabend - Teil 3/3
Ich nickte. »Sebasto meinte, sie hätten bereits erste Bilder aus Europa gesehen.«
»Das wäre ja ... das ist ... einfach unglaublich. Ich werde mich gleich mal damit befassen und versuchen, einen dieser Dinger anzusteuern. Unsere große Schüssel sollte eigentlich in der Lage sein, Kontakt zu diesen Satelliten aufzunehmen. Mit etwas Glück bekommen auch wir auf Flores mal einen vernünftigen Einblick in die Situation auf dem Festland.«
Mir war bekannt, dass er Familie in England hatte und - genau wie ich - nicht wusste, was aus ihr geworden war. Ich war sicher, dass Grover schon in wenigen Stunden einen dieser Satelliten steuern würde.
»Ich mach dann mal Feierabend, okay?«
»Fahr nur. Es ist Heiliger Abend und deine Frau wird nicht böse sein, dich zu sehen.«
»Schon richtig, aber es ist ein eigenartiges Weihnachtsfest, nicht wahr?«
Grover nickte. »Aber ist Weihnachten nicht auch eine Zeit der Hoffnung? Wir sollten sie niemals aufgeben.«
»Ich gebe sie niemals auf. Ich wünsch dir eine ruhige Schicht.«
Ich klopfte ihm auf die Schulter und wandte mich zum Gehen. Draußen war es hell, aber trübe, der Himmel grau. Es war so gar keine weihnachtliche Stimmung. Glücklicherweise regnete es nicht, als ich auf mein Rad stieg und den Weg nach Ponto Delgada einschlug. Ich liebte diese einsamen Wege durch die Natur von Flores. Es waren die Zeiten, in denen ich nachdenken - mich an Dinge erinnern konnte.
Der Weg zurück nach Hause erschien mir von jeher kürzer, da er überwiegend bergab führte. Schon von Weitem waren die Häuser von Ponto Delgada in der Ferne zu erkennen, doch mein Ziel lag noch davor. Marinas Familie wohnte etwas außerhalb des Ortes. Carlos, hatte uns schweren Herzens seinen alten Anbau überlassen, damit Marina und ich aus ihm eine kleine Wohnung für uns einrichten konnten.
Am Haus der Dos Santos, welches nun auch mein Heim war, kam mir schon der Duft eines Bratens entgegen, den Elisa vorbereitet hatte. Carlos hatte eine Gans geschlachtet, die unser Festmahl sein sollte. Bestens gelaunt betrat ich die große Küche und meine Schwiegermutter lächelte mir zu. Ich drückte sie kurz und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Ist Marina noch nicht da?«
»Sie müsste bald kommen. Sie fuhr nur noch einmal nach Santa Cruz ins Geschäft. Es ist zwar Heiliger Abend, aber die Menschen brauchen auch Lebensmittel für den Feiertag.«
»Gibt es denn überhaupt noch Waren? Es ist doch schon seit Monaten kein Schiff mehr vom Festland angekommen.«
»Seit die Notlage eingetreten ist, halten die Menschen hier auf Flores zusammen. Sie haben begonnen, ihre eigenen Produkte in die Läden zu bringen und nutzen sie als Tauschbörsen. Geld hat weitgehend seine Bedeutung verloren, solange die Versorgung von draußen ausbleibt.«
Ich nickte, denn ich hatte davon schon gehört, und es war vollkommen vernünftig, so zu handeln. Leider funktionierte ein solches System meist nur in kleinen Gemeinden, wie der Bevölkerung von Flores.
»Marina ist doch nicht etwa mit dem Fahrrad gefahren?«, fragte ich.
»Um Gottes Willen, nein! Sie hat die Kutsche genommen. Schau doch mal, ob du sie nicht schon sehen kannst. Sie wollte eigentlich schon zu Hause sein.«
Ich trat ans Fenster und spähte die Straße nach Ponto Delgada hinunter. Da es nur diese eine Straße gab, konnte sie auch nur aus dieser Richtung kommen. Viel Verkehr hat es auf dieser Straße nie gegeben, aber seit Ausbruch des Krieges in Europa war das Benzin knapp, und heute sah man höchstens mal Radfahrer oder Pferdekutschen, soweit es sie überhaupt gab. Carlos hatte aus reiner Liebhaberei stets ein Pferd und eine Kutsche behalten. Er war einer der wenigen, die noch Transporte durchführen konnten. Mir war es recht, dass Marina mit dem Pferdefuhrwerk unterwegs war, denn der Weg von Santa Cruz bis Ponto Delgada war beschwerlich, wenn man ihn mit dem Rad zurücklegen musste.
In der Ferne bemerkte ich eine Bewegung und trat zur Tür hinaus auf die Straße. Mit der Hand beschattete ich meine Augen und spähte angestrengt nach Osten. Es war eine Kutsche. Marina kam heim. Schon von Weitem winkte sie mir zu und ich sah ihre langen Haare im Wind fliegen. »Da kommt sie ja.«
Ich wandte mich um, und hatte gar nicht mitbekommen, dass Carlos ebenfalls vor das Haus getreten war. »Dann kann der Heilige Abend ja beginnen.«
Marina hielt die Kutsche vor uns an und sprang mit einem Satz vom Kutschbock. Mit zwei Schritten war sie bei mir und warf sich in meine Arme. Mein Herz pochte heftig, wenn sie so ungestüm war. Ich küsste sie lange und ausgiebig, bis Carlos sich hörbar räusperte. »Ihr benehmt euch, als hättet ihr euch seit Wochen nicht gesehen.«
Sie wandte ihm das Gesicht zu. »Und wenn es mir so vorkommt, Vater? War es bei dir und Mutter früher anders?«
»Das war auch früher etwas ganz anderes ...«, grummelte Carlos und breitete die Arme aus. »Willst du deinen alten Vater etwa nicht begrüßen?«
Marina lächelte und löste sich von mir, um Carlos zu begrüßen, der sie mit seinen Armen umfing und ihr einen Kuss gab. »Man darf doch auch erwarten, von seiner Lieblingstochter einen Kuss zu bekommen, oder?«
Sie boxte ihn leicht gegen die Schulter. »Ich bin deine einzige Tochter!«
Er lachte. »Na und? Aber geht schon, ihr zwei. Elisa bereitet in der Küche unsere Gans. Ich versorge schon mal das Pferd, damit es uns gleich die Nachtfahrt nicht übel nimmt.« Dabei zwinkerte er mir zu. Ich verstand nicht, was er meinte.
Marina wandte sich um. »Auf dem Wagen liegt noch ein Sack mit Kartoffeln und ein Sack Mehl. Es ist die Bezahlung für die Transporte, die du für die Sanchez aus Santa Cruz erledigt hast.«
»Ah, prima. Besonders das Mehl ist wichtig. Wir haben kaum noch etwas.«
Wir betraten gemeinsam das Haus und der Geruch der Gans im Ofen ließ uns das Wasser im Mund zusammenlaufen. Elisa lächelte, als sie uns Hand in Hand hereinkommen sah. Sie gab Marina einen Kuss. »Schön, dass du so zeitig gekommen bist, mein Schatz. Ich könnte noch etwas Hilfe gebrauchen, dann bleibt uns allen noch genügend Zeit, uns fertigzumachen.«
»Fertigzumachen?«, fragte ich.
Die Frauen sahen mich fragend an. »Ferdi, du willst doch nicht so am Heiligen Abend zur Kirche gehen?«
Ich schaute an mir herunter. »Was ist an meinem Aufzug auszusetzen?«
Marinas Gesicht drückte Missbilligung aus. »Nicht schon wieder ... Müssen wir das in jedem Jahr von Neuem diskutieren? An einem normalen Sonntag würde ich ja nichts sagen. Aber heute?«
»Also ich finde ...«
»So nehm ich dich jedenfalls nicht mit. Und zu essen bekommst du auch nichts. Es ist Heiliger Abend ...«
Ich begriff, dass es hier keinen Spielraum für Diskussionen gab. »Okay, dann zieh ich mich eben nochmal um.«
Nachdem ich den Raum verlassen hatte, hörte ich die Frauen hinter mir lachen. Mir war nicht klar, ob ich der Grund für ihre Heiterkeit war. Doch insgeheim gab ich ihnen recht.
Auch wenn ich schon seit einigen Jahren nicht mehr viel mit der Kirche zu tun hatte, konnte ich mich dennoch gut daran erinnern, dass wir früher - als Kind - in Hannover auch immer unsere besten Sachen angezogen hatten. Erst ging es dann in die Kirche und anschließend wurde geschlemmt. Meine Mutter war eine hervorragende Köchin und es war jedes Mal ein wahrer Festschmaus. Wieso sollte es hier auf Flores anders sein? Fast die gesamte Bevölkerung von Flores war katholisch. Ich zog mich ins Bad zurück und rasierte mich zum zweiten Mal an diesem Tag. Marina hatte es gern, wenn es nicht kratzte, wenn sie mich küsste, und ich wollte nicht riskieren, den ganzen Abend über keinen Kuss zu bekommen. Als ich fertig war und ins Schlafzimmer kam, um meine besten Sachen aus dem Schrank zu holen, stand sie vor dem Spiegel und trug ein Kleid, das ich nicht kannte. Es bestand aus einem schwarzen, glatten Stoff, reichte bis zu den Knien und ließ ihre Schultern frei, um die sie einen durchsichtigen Schal geschlungen hatte. Mit einer Bürste glättete sie ihre langen schwarzen Haare, die sie nach der Kutschfahrt wieder zu ordnen wollte. Ich blieb, wie eingefroren, in der Tür stehen und starrte sie an, wie eine Erscheinung. Marina musste meinen Blick gespürt haben, denn sie wandte kurz den Kopf zu mir und sah mich mit einem Augenaufschlag an, der meinen Herzschlag stocken ließ. »Hallo Fremder, was machen Sie hier in meinem Schlafzimmer?«
Ihr Lächeln wurde breiter und ihre großen, dunklen Augen schienen mich gefangenzunehmen. Ich weiß, dass sich das kitschig anhört, aber in dieser Situation kam es mir exakt so vor.
»Du weißt, dass du ... atemberaubend aussiehst?«, fragte ich. Ich trat hinter sie, worauf sie mir ihre Halsbeuge präsentierte, damit ich sie küsste.
»Ja«, antwortete sie schlicht. »Für dich will ich das auch sein.«
»Dir ist schon klar, dass du mich auf eine ganz bestimmte Idee bringst?«
Sie lachte. »Vielleicht ist das ja Absicht. Später. Jetzt zieh dich bitte an. Die Eltern warten.«
Als wir die Stube wieder betraten, standen Carlos und Elisa schon bereit und sahen so elegant aus wie zu unserer Hochzeitsfeier. Es war mir ein Rätsel, wie sie das so schnell geschafft hatten.
»Schön, dass ihr auch noch erscheint«, empfing uns Carlos. »Ich hab schon das Pferd versorgt und ihr müsst nur in die Kutsche steigen. Der Pfarrer in Santa Cruz wird nicht auf uns warten, bevor er mit der Messe beginnt. Es wird Zeit.«
Elisa warf einen kurzen Blick auf die Gans in der Bratröhre. »Sie braucht sicher noch zwei Stunden. Wenn wir zurück sind, können wir bald essen.«
Wir löschten das Licht im Haus und stiegen auf die Kutsche. Wie üblich ließ Carlos die Türe unverschlossen, da es äußerst unwahrscheinlich war, dass jemand in unserer Abwesenheit dort eindrang. Carlos nahm die Zügel in die Hand, nachdem er sich in eine dicke Wolldecke gewickelt hatte. Wir griffen ebenfalls zu solchen Decken. Marina und ich teilten uns eine und wärmten einander gegenseitig. Elisa lächelte still, als sie uns anblickte. Es war ihr anzusehen, dass sie glücklich war.
Das Wetter war trocken und kühl, sodass nicht zu befürchten war, auf dem Weg zur Kirche nass zu werden. Das Klackern der Hufe auf dem rissigen Pflaster waren die einzigen Geräusche, die uns bis Ponto Delgada begleiteten. Von dort aus schlossen sich uns weitere Kutschen an, deren Insassen ebenfalls zur Kirche nach Santa Cruz fuhren. Für mich war es ein ungewohntes Gefühl, wieder einmal eine Messe am Heiligen Abend zu besuchen, doch stellte fest, dass ich dadurch allmählich in eine feierliche Stimmung kam.
An der Kirche in Santa Cruz angekommen, war es schon stockfinster und der Platz vor dem Eingang wurde durch zahlreiche Fackeln erleuchtet, die in eigens dafür vorgesehenen Ständern steckten. Das durch die Fenster fallende Licht erzeugte eine einladende Atmosphäre. Carlos übergab einem Mann, den er offenbar gut kannte, unsere Kutsche, nachdem er Elisa beim Absteigen geholfen hatte. Ich hob Marina herunter, wofür ich ein strahlendes Lächeln erntete.
Carlos zwinkerte mir zu, griff Elisas Arm und hakte ihn bei sich ein. Ich bot Marina meinen Arm, und lächelnd hakte sie sich bei mir ein. Gemeinsam führten wir feierlich unsere Frauen in die Kirche. Drinnen war es recht voll und man hatte zusätzliche Klappstühle aufgestellt. Die Kirche von Santa Cruz war nicht sonderlich groß, dennoch gab es eine Orgel, an der ein talentierter Organist spielte und ein Chor stimmte sich auf die anstehenden Lieder ein. Die Atmosphäre war feierlich und ich ließ mich davon anstecken. Ich war niemand, der gern sang, aber mitten zwischen all den Bürgern von Flores, die alle Kirchenlieder voller Inbrunst mitsangen, überwand ich mich und sang ebenfalls, was mir ein Lächeln Marinas einbrachte. Elisa drehte sich überrascht zu mir um und lachte. In den zwei Stunden, die wir in der Kirche verbrachten, gab es nur das Weihnachtsfest, und niemand verschwendete einen Gedanken an die Situation, in der wir uns befanden. Wir waren einfach nur glücklich und dankbar dafür, dass es uns und unseren Familien gut ging. Nur zwischendurch keimte der Gedanke an meine Familie in Deutschland in mir auf. Ob sie in Deutschland ebenfalls das Weihnachtsfest feiern konnten? Ob ich überhaupt noch eine Familie hatte. Was hätte ich dafür gegeben, mit Ihnen Kontakt aufnehmen zu können?
Auf dem Heimweg waren wir äußerst guter Laune. Ich war völlig überrascht, wie sehr mich der Besuch der Messe in eine weihnachtliche Stimmung versetzt hatte.
Daheim half ich Carlos dabei, die Kutsche in den Stall zu bringen und das Pferd zu versorgen, während die Frauen schon im Haus dabei waren, den Tisch für das Essen vorzubereiten.
Als wir die Stube betraten, hatten Elisa und Marina alles erledigt und überall Kerzen aufgestellt. Es sah gemütlich aus. Ein eigenartiges Gefühl, das Weihnachtsfest zu feiern, in einer Welt, die aus den Fugen geraten war. Wir lebten buchstäblich auf einer Insel der Glückseligkeit, einem winzigen Fleck mitten im Atlantik, der von den Wirrungen der Welt vergessen worden war. Wir setzten uns an den Tisch und mit einem Mal hatte ich ein Gefühl von Frieden und Zuversicht, dass es für uns - für jeden, auf dieser Welt - einen Funken Hoffnung gab.
Carlos faltete seine Hände und begann zu beten. Es hatte mir früher kaum etwas bedeutet, doch seit ich Mitglied von Marinas Familie geworden war, hatte ich mich verändert. So faltete ich meine Hände und begann die Gebete zu sprechen, die ich in meiner Kindheit gelernt, und von denen ich nicht gewusst hatte, dass ich sie noch immer beherrschte.
Ich lebte seit ein paar Jahren im Kreise meiner neuen Familie und Weihnachten ist hier immer etwas Besonderes. Aber anfangs hatte ich das, was sie Weihnachtsstimmung nannten, nicht empfinden können. Ich merkte aber, dass ich mich allmählich veränderte und durch Carlos und Elisa, vor allem aber durch Marina, dem Glauben und der Kirche wieder nähergekommen war.
Es mag sich merkwürdig anhören, aber dieses Weihnachtsfest war das Schönste, das ich jemals erlebt hatte..
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RE: Cuprum
in Auszüge aus unseren Büchern 14.01.2025 17:03von moriazwo • Federlibelle | 358 Beiträge | 1312 Punkte
1.2 Kein Kontakt - Teil 1/2
Ich durchlebte einen wunderschönen Traum und wanderte mit meiner Frau Hand in Hand an einem endlosen, weißen Strand entlang. Die Sonne schien und die Brandung plätscherte sanft bis zu unseren Füßen. Ich wandte mich zu Marina, die mich mit einem Lächeln bedachte, das ein Männerherz zum Schmelzen brachte. Ich wollte mich eben zu ihr hinüberbeugen, um sie zu küssen, als mich etwas störte. Die Szenerie bröckelte, und allmählich drang eine Stimme zu mir durch. Es dauerte, bis ich Marinas Stimme erkannte.
»Schatz, wach auf.«
Sie rüttelte mich an der Schulter. Der Strand verblasste, und ich lag in meinem Bett. Marina saß neben mir und hatte sich einen leichten Morgenmantel übergezogen.
»Was ist denn?«, fragte ich. »Komm wieder ins Bett. Es ist doch noch dunkel.«
»Das Funkgerät.«
»Was ist damit?«
»Es hat sich gemeldet.« Sie unterstrich die Wichtigkeit mit einer Geste ihrer Hand. Es war immer wieder faszinierend, wie sie teilweise ohne Worte - nur mit ihren Händen - Dinge erklärte. Vermutlich musste man in diesen südlichen Breiten aufgewachsen sein, um das zu beherrschen. Ich kämpfte mich hoch, und setzte mich auf.
»Es hat sich gemeldet?«
Marina verdrehte die Augen. »Hab ich doch gesagt. Grover war dran. Er sagte, es wäre wichtig. Er klang aufgeregt.«
»Was meinst du mit aufgeregt?«
»Nun, ich weiß, dass er portugiesisch spricht, aber er fiel immer wieder ins Englische, und das ist für mich ein Zeichen dafür, dass etwas passiert sein muss.«
Ich sprang aus dem Bett. »Ist er noch dran?«
»Ich denke schon. Er bat mich, dich unbedingt zu holen.«
Das Funkgerät stand im Nebenraum. Es gab leider nicht genügend tragbare Modelle und daher besaß ich eines der altmodischen Ungetüme, die eine Menge Platz benötigen. Ich setzte mich davor auf den Hocker und drückte die Sendetaste. »Grover? Was gibt es?«
»Vielleicht haben wir ein Problem.«
»Vielleicht? Und dafür holst du uns aus dem Bett? Hat das nicht Zeit bis morgen früh?«
»Unter Umständen nicht. Ferdi, da ist etwas faul.«
»Kannst du deutlicher werden?«
Marina war hinter mich getreten und fuhr mir mit der Hand durch meine Haare. Ich spürte, dass sie nervös war.
»Du hattest mir doch diese Ausdrucke mit den Codes gegeben. Ich hab etwas herumprobiert und dann tatsächlich Kontakt zum ersten Satelliten bekommen.«
»Du hast uns angerufen, um uns das zu sagen? Mitten in der Nacht? Dazu wäre morgen früh noch Zeit genug gewesen, meinst du nicht?«
»Moment, jetzt reg dich nicht auf! Das ist es nicht. Ich wollte mit unseren Jungs auf São Miguel abgleichen, welchen Satelliten sie dort steuern. Du weißt schon - damit wir uns nicht in die Quere kommen. Sie haben aber nicht geantwortet.«
»Auch auf São Miguel ist es Nacht, Grover. Sie werden nicht vor dem Empfänger darauf lauern, dass Grover Lambert von Flores aus anruft.«
»Ich weiß, ich weiß, hab ich auch erst gedacht. Aber als ich kurz danach unsere Systeme gecheckt habe, fiel mir auf, dass die Generatoren unseres Ost-Feldes nicht online sind.«
»Was? Die waren noch alle da, als ich Dienst hatte. Da bin ich sicher. Du kannst dich nicht geirrt haben?«
»Ernsthaft?«
Ich zögerte einen Augenblick. »Nein. Ich kann’s mir nur einfach nicht erklären.«
»Meinst du ich?«
»Wenn das östliche Feld wirklich offline ist, haben sie auf São Miguel ein echtes Problem. Dann müsste es in Achada wie in einem Bienenschwarm summen, und dann müssten wir auf jeden Fall Funkkontakt bekommen. Genau genommen müssten sie es uns melden, damit wir aus dem West-Feld Leistung bereitstellen.«
»Seh ich genauso«, meinte Grover. »Wär es unverschämt, dich zu bitten, zur Station zu kommen? Ich will gleich auch Ronald anfunken und ihn informieren. Ich glaub, wir haben eine ernste Krise.«
»Vielleicht löst sich ja noch alles in Rauch auf«, sagte ich ohne großen Optimismus. »Ich komm gleich zur Station.«
Nachdem ich die Verbindung getrennt hatte, blickte ich zu Marina hoch, die neben mir stand und mich besorgt ansah. »Du hast es selbst gehört. Ich muss zur Station.«
»Was glaubt ihr, was es ist?«, fragte sie. »Ihr habt doch einen Verdacht. Erzähl mir jetzt nicht, es wäre reine Routine. Du bist noch nie mitten in der Nacht angerufen worden, seit wir zusammen sind.«
Ich griff ihre Hände und zog sie auf meinen Schoß. »Ich will dir nichts vormachen, aber wir wissen im Augenblick wirklich nicht, was da los ist. Es kann ein einfaches technisches Versagen sein, was schon schlimm genug wäre, da wir nicht für jeden Schaden Ersatzteile besitzen.«
»Aber das ist nicht, was ihr befürchtet, oder?«
Ich schüttelte den Kopf.
Marinas Augen bekamen einen ängstlichen Ausdruck. »Was glaubt ihr denn?«, fragte sie leise.
»Es ist bisher nur so ein Gedanke. Ich brauche aber erst weitere Informationen, und so lange ich nicht weiß, ob es nicht einfach ein Hirngespinst ist, will ich dich damit nicht belasten. Ich muss zur Station und Gewissheit haben. Dann reden wir weiter.«
»Oh nein, Senhor Menzel!« Der ängstliche Ausdruck war verschwunden und ärgerliches Blitzen war an seine Stelle getreten. »So läuft das nicht! Ich bin deine Ehefrau! Wie hat der Pfarrer gesagt? In guten, wie in schlechten Zeiten ... Glaubst du etwa, ich wäre zerbrechlich? Was immer dieser Anruf zu bedeuten hat - wir meistern das gemeinsam oder gar nicht.« Sie sah mich abwartend an. »Nun? Ich warte.«
Ich kannte Marina , um zu wissen, dass sie nicht nachgeben würde.
»Es könnten die Naniten sein.«
Sie stieß zischend ihren Atem aus. »Naniten? Bist du sicher?«
»Ich bin mir überhaupt nicht sicher. Du ahnst nicht, wie sehr ich mir wünsche, dass sie es nicht sind. Ich muss jetzt los.«
Marina sprang von meinem Schoß. »Ich komme mit.«
»Das halte ich für keine gute-«
»Ich komme mit! Ich lass dich jetzt nicht allein mit dem Rad nach Farol fahren. Ich bring dich mit der Kutsche hin.«
»Das brauchst du nicht, Schatz.«
»Keine Diskussion! Du kommst mit der Kutsche nicht zurecht. Ich fahr mit.«
Ich gab nach, da ich ihre Meinung nicht ändern konnte. Im Grunde beruhigte es mich, sie bei mir zu haben. Bis ich mich frisch gemacht hatte, war sie angezogen und hatte das Pferd angespannt. Draußen empfing uns klare und kühle Luftl. Ich fröstelte, als ich vor die Tür trat. Marina saß schon auf dem Kutschbock und hatte sich in eine warme Decke eingewickelt.
Ich blickte nach oben und sah einen fast vollen Mond sowie endlos viele Sterne. Wir würden genügend Licht haben und uns auf dem Weg halten können. Ich kletterte neben Marina und sie hob die Zügel. »Dort ist noch eine Decke. Leg sie über, du erkältest dich noch.«
Dankbar wickelte ich mich hinein und schaute auf den Weg. Es war für einen Städter wie mich immer wieder verblüffend, wie hell Mondlicht sein konnte. Wäre nicht der beunruhigende Grund für unsere Fahrt, hätte ich sie sogar genossen. Das Klackern der Pferdehufe auf dem Pflaster in der sonst perfekten Ruhe der Nacht war schon etwas Tolles. Wir sprachen kaum und waren mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt, bis wir die Lichter der Station vor uns auftauchen sahen.
Auf dem Parkplatz stand ein Fahrzeug, das sonst nicht dort stand: ein alter, rostiger Seat Marbella. Er gehörte Ronald, und ich ärgerte mich darüber, dass er Treibstoff vergeudete, nur um schnell bei der Station zu sein.
Marina band das Pferd am Carport an und wir betraten gemeinsam das Gebäude. Im Gebäude war es angenehm warm. Die Heizung arbeitete mit elektrischem Strom und daran herrschte kein Mangel. Ronald und Grover diskutierten angeregt über ihre Beobachtungen und bemerkten uns erst, als wir direkt neben ihnen standen.
»Und?«, fragte ich. »Habt Ihr was herausgefunden?«
»Ach, ihr seid schon da«, sagte Grover. »Schön, dich zu sehen, Marina.«
»Wir wissen noch nicht viel«, sagte Ronald. »Außer, dass São Miguel nicht antwortet und das gesamte östliche Feld tot zu sein scheint. Grover hat aber seine Finger auf einem der alten US-Satelliten und der wird in wenigen Minuten über die Azoren fliegen. Wir hoffen, dann ein paar Aufnahmen zu bekommen, die uns Aufschluss geben.«
Wir setzten uns auf einen der Tische und sahen Grover zu, wie er mit flinken Händen auf seiner Computertastatur herumtippte.
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RE: Cuprum
in Auszüge aus unseren Büchern 14.01.2025 17:04von moriazwo • Federlibelle | 358 Beiträge | 1312 Punkte
1.2 Kein Kontakt - Teil 2/2
»Darf man fragen, was du dort tust?«, fragte Marina.
Grover hob eine Hand. »Nicht jetzt. Ich muss mich konzentrieren. Wenn der Vogel über die Azoren gezogen ist, dauert es wieder Stunden, bis wir eine neue Chance bekommen.«
So schwiegen wir und ließen ihn seine Arbeit machen. Über seinen Monitor zogen endlose Zahlenkolonnen, aber er schien zu wissen, was sie bedeuteten, denn von Zeit zu Zeit grunzte er zufrieden oder verärgert - je nachdem. Nach fast einer halben Stunde schlug er mit beiden Händen auf seinen Tisch, stieß sich mitsamt seinem Stuhl ab und rollte durch die Messwarte. »Das war’s! Jetzt wollen wir hoffen, dass wir damit was anfangen können.«
Ich sah ihn verblüfft an. »Kannst du uns auch erklären, was genau wir jetzt wissen? Ich muss zugeben, dass mir das alles etwas zu kryptisch war.«
Grover rollte auf seinem Stuhl wieder zurück zu seinem Arbeitsplatz. »Der Satellit hat jede Menge hochauflösender Aufnahmen von São Miguel gemacht. Wenn dort etwas nicht in Ordnung ist, sollten wir es sehen können. Ich kann leider auch nichts dafür, dass diese Satelliten nur über Konsolenbefehle gesteuert werden können. Wartet, ich lass uns das Zeug mal anzeigen.«
In der nächsten Stunde wurden wir immer schweigsamer. In der Übersicht sah alles normal aus, aber sobald man hineinzoomte, erkannte man, dass Fahrzeuge wirr in den Straßen herumstanden. Nirgends gab es Straßenbeleuchtung. Auf den Bildern der Infraroterfassung sah man Gruppen von Menschen herumstehen - mitten in der Nacht. Die Bilder des östlichen Generator-Feldes zeigten keinerlei thermische Aktivität. Nachdem wir alle Fotos gesehen hatten, klappte Grover seinen Laptop zu.
»Und was bedeutetet das jetzt?«, fragte Marina. »Sind wir jetzt schlauer als vorher?«
Ich nickte. »Leider ja. Es sieht so aus, als sei alles ausgefallen, was mit elektrischer Energie zu tun hat. Das kann nur bedeuten, dass die Kupferelemente kontaminiert und die Naniten auf São Miguel angekommen sind. Ich wundere mich nur darüber, wie schnell das geschehen ist. Gestern noch hatte ich Kontakt zu Sebasto, da hat er noch nichts von Problemen erzählt. Hieß es nicht immer, diese Naniten wären nachts nicht aktiv? Wegen der geringen Möglichkeiten, Sonnenenergie zu speichern?«
Grover nickte. »Ja, so hieß es. Für Naniten, die sich im Freien aufhalten, wird das auch zutreffen, aber was ist mit denen, die bereits irgendwo eingedrungen sind, wo es hell ist? Die werden sicher weiter munter ihr Zerstörungswerk fortsetzen. Aber da die gesamte Insel mit einem Schlag betroffen zu sein scheint, vermute ich, dass es noch am Tage passiert ist.«
Marina sah mich fragend an. »Aber wie ist das überhaupt möglich? Habt ihr nicht immer gesagt, dass nur das Festland betroffen ist? Wir sind hier zweitausend Kilometer davon entfernt. Wieso gelangen diese Biester bis hierher? Und was hat das für uns zu bedeuten?«
»Das sind viele Fragen. Ich fürchte, wir sind bis auf Weiteres auf Vermutungen angewiesen. Vielleicht sind Winde dafür verantwortlich. Keine Ahnung.«
»Winde? Winde sollen diese Dinger über so weite Strecken transportiert haben?«
Ronald lächelte. Geschichte und der Untergang unserer Zivilisation war sein Steckenpferd. Er sammelte alles darüber, was er finden konnte. Er sagte immer, dass nachfolgende Generationen aus unseren Fehlern lernen müssten und ein Recht darauf hätten, alles zu erfahren. Er liebte es, darüber zu referieren. »Kann es sein, dass du keine rechte Vorstellung davon hast, was außerhalb unserer schönen Insel geschehen ist?«
»Du musst jetzt nicht darauf herumreiten, dass ich keine so qualifizierte Schulbildung habe wie ihr!«, schnappte Marina.
Ronald hob abwehrend seine Hände. »Nein, nein, das meine ich nicht. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese kleine Azoreninsel eine Welt für sich ist und die Entwicklung etwas an ihr vorbeigegangen ist. Zum Glück, denn sonst würden wir hier nicht so entspannt sitzen.«
»Entspannt würde ich das nicht nennen«, sagte ich. »Die Frage ist, was wir nun tun können, damit hier bei uns die Lichter nicht auch noch ausgehen?«
Marina hob ihre Hand. »Dann macht mich mal schlau. Wie muss ich mir solche Naniten vorstellen?«
»Was weißt du überhaupt über sie?«, fragte Ronald.
Sie wiegte ihren Kopf. »Nun ja, ich weiß, was man über sie erzählt, aber so richtig kann ich mir darunter nichts vorstellen. Ferdi meinte, es wäre vergleichbar mit Bakterien oder Viren.«
»Na ja, als Modell taugt diese Vorstellung, aber es ist schon etwas anders.«
Er nahm uns gegenüber Platz und schlug seine Beine übereinander. Ich setzte mich zu meiner Frau und fasste ihre Hand.
»Ronald, du denkst daran, dass du keinen Vortrag vor Publikum halten musst?«, ermahnte ich ihn.
Er sah mich verstimmt an. »Was willst du damit sagen?«
»Ich kenne dich. Wenn ich dich jetzt nicht bremse, redest du dich gleich in einen Rausch. Bitte nimm mir das nicht übel, aber beschränke dich bitte auf das Nötigste. Wir haben jetzt wirklich keine Zeit für langatmige Ausführungen. Was sind die Naniten? Alles Weitere kannst du später sicher auch noch loswerden.«
»Na gut«, sagte er enttäuscht. »Obwohl ich der Meinung bin, jeder sollte-«
»Ronald!«, rief Grover. »Ferdi hat doch recht. Bitte die kurze Fassung. Marina wird schon verstehen, worum es geht.«
Ronald verdrehte theatralisch die Augen. »Mit mir könnt ihr es ja machen.« Er wandte sich Marina zu. »Du weißt, dass Maschinen im Laufe der technischen Entwicklung immer präziser und kleiner geworden sind. Auch die Produkte, die man mit ihrer Hilfe herstellt, wurden immer kleiner. Denk an unsere Telefone von vor fünfzig Jahren und schau dir unsere heutigen Mobiltelefone an - oder Computer. Du kannst dir sicher denken, dass heute niemand mehr von Hand so filigrane Dinge fertigen kann, wie beispielsweise eine Computerplatine.«
Marina nickte.
»Nun, und du weißt sicher, dass der Trend schon seit Jahren zu immer weiterer Miniaturisierung geht. Die neueste Entwicklung sind Geräte ohne bewegliche Teile, die noch dazu immer kleiner werden. Wissenschaftler in der Schweiz haben es sogar geschafft, sie so winzig zu machen, dass man sie mit dem bloßen Auge kaum noch erkennen kann.«
»Moment mal«, sagte Marina. »Wenn sie so winzig sind ... Was können sie denn dann überhaupt schaffen?«
Ronald lächelte. »Genau das ist der Punkt. Sie können nicht viel, und sie sind im Grunde dumm. Sie tun nur genau das, was man in ihre winzigen Speicher programmiert hat. Der Witz ist, dass sie eine Menge bewegen können, wenn es nur genug von ihnen sind. Diese Winzlinge, die wir Naniten nennen, treten in Millionenstärke auf. Wir haben es mit einer Variante zu tun, die darauf programmiert ist, das Element Kupfer zu oxidieren, wodurch es seine charakteristischen Eigenschaften verliert. Irgendwer auf diesem verdammten Planeten erlangte Zugriff auf diese Dinger und hat sie als Waffe eingesetzt. Leider scheint man vollkommen die Kontrolle verloren zu haben, und jetzt sitzen wir in der Scheiße.«
Marina war nachdenklich, als Ronald geendet hatte. »Diese Dinger greifen nur Kupfer an? Das reicht?«
Ich nickte. »Was steckt in Elektromotoren? Kupferwicklungen. Auf Computerboards? Kupferleiterbahnen. Auch die Überlandleitungen sind in der Regel aus Kupfer. Das Element steckt einfach in jeder Technologie. Diese Naniten können also unsere gesamte Zivilisation mit einem Schlag blind und taub machen, und auch die Energieversorgung zerstören.«
Marina hob hilflos ihre Hände. »Aber - mein Gott - Kupfer ist doch nicht das einzige Metall. Man kann doch auch andere verwenden. Was ist mit Eisen, Aluminium, Silber, Gold?«
»Keine schlechte Idee«, sagte Grover. »Aber die Umstellung auf andere Materialien setzt leider eine intakte Industrie voraus - die wir nicht mehr haben. Grundsätzlich wäre es möglich, aber wir müssten wirklich wieder ganz unten anfangen und hoffen, dass das technische Knowhow noch vorhanden ist. Das Wissen der Welt steckt heute in der Regel in Computern. Die meisten funktionieren nicht mehr. Das Internet ist Geschichte. Du siehst, es ist nicht einfach. Dazu kommt noch, dass die Überlebenden auf dem Festland nicht zusammenarbeiten, sondern eifersüchtig das wenige behüten, was sie noch haben.«
»Wir müssen unbedingt herausfinden, was wir tun können, um zu verhindern, dass die Naniten auch uns erreichen«, sagte Ronald.
Marina sah ihn an. »Können wir das überhaupt? São Miguel ist nur fünfhundert Kilometer von hier entfernt. Sie haben auch die zweitausend von Europa aus geschafft.«
»Ich kann mir nur vorstellen, dass Winde dafür verantwortlich sind«, sagte ich. »Wir auf Flores haben nur sehr selten Ostwind. Außerdem zieht der Golfstrom in östlicher Richtung. Der Wasserweg ist damit wohl ausgeschlossen.«
Grover nickte. »Sicher, der Wasserweg ist ausgeschlossen - aber nicht, weil der Golfstrom eine andere Richtung hat. Ihr erinnert euch an diese Nachricht, die wir über Funk hereinbekommen haben? Salzwasser! Diese Dinger sollen doch kein Salzwasser vertragen.«
Jetzt, wo er es sagte, fiel es mir wieder ein. »Ist das sicher? Gibt es dazu verifizierte Erkenntnisse?«
Grover lachte. Du bist ein ganz Genauer, was? Natürlich gibt es keine verifizierten Erkenntnisse, wie du das nennst. Ein Mann auf dem Festland hat es über Funk verbreitet, das ist alles? Hätte er einen Grund, uns in die Irre zu führen? Ich sehe keinen. Um absolut sicher zu sein, müssten wir es experimentell überprüfen.«
Wir schwiegen einen Moment und man hätte eine Stecknadel fallen hören können.
Plötzlich zuckte Grover hoch. »Wir müssen sofort eines tun: Die U-Boote müssen ausrücken und die Energieleitung zum östlichen Generatorfeld kappen. Am besten sprengen wir sie und zerstreuen die einzelnen Teile.«
Ich blickte ihn fragend an. »Und wozu? Warst nicht du es, der eben noch behauptet hat, Salzwasser wäre unser bester Schutz?«
»Ich weiß selbst, was ich gesagt habe! Wir wissen aber weder, ob das sicher ist, noch wie die Naniten tatsächlich arbeiten. São Miguel ist im Arsch, ebenso die dortigen Generatoren. Was denkt ihr, tun die Naniten, wenn sie sich mit der direkten Leitung zu unserem Generator-Feld befassen? Das sind ummantelte Tiefseekabel. Ein Kupferkern, der von São Miguel bis hierher reicht. Ich weiß nicht, wie schnell diese Biester arbeiten oder ob sie dort unten überhaupt genug Energie haben, um aktiv zu sein. Aber ich denke, wir sollten auf Nummer sicher gehen und diesen Naniten nicht noch helfen, uns zu vernichten.«
»Du hast recht!«, entfuhr es mir. »Alarmieren wir die Wartungsteams. Haben wir genug Sprengstoff?«
»Mehr als genug!«
»Dann los! Ab jetzt geht es vielleicht um jede Minute.«
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