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SGZ Nr. 44 Ich danke dir
in Die Geschichten der Woche 03.11.2024 15:16von Poetrymaus • Forums-Schmetterling | 56 Beiträge | 320 Punkte
Ich danke dir,
Monate, nachdem du bist gestorben
ist mir vieles so bewusst geworden.
Das Leben mit dir, mein Kind
ein so anderes war
und doch für uns
gelebte Normalität,
da man nur das Leben führen kann
das einem zur Verfügung steht.
Nachdem du, frisch geboren,
hast durch Krankenhauskeime
große Teile deines Gehirns verloren
blieb nicht so viel,
um lernen zu können,
überleben war deine Strategie
Verstellen konntest du dich nie,
du warst so pur
so klar … und
niemals war ich der Unschuld so nah
wie bei dir, mit dir.
Keine vorgespielte Mimik
oder Grinsen auf Knopfdruck,
dein Lachen, dein so schelmisches
Hochziehen des Mundwinkels,
ich sehe es vor mir
und mein Herz wird warm,
warm und weich
denn zugleich
weiß ich, dass es mit dir gegangen ist.
Dein Leben war kein leichtes
es war kein seichtes
durch das du wärst geglitten
wie ein heißes Messer durch die Butter
doch ich durfte dich stets begleiten,
als Freundin, Pflegerin und Mutter.
Du warst frei von jeder Pflicht,
doch selbst du
entkamst der Schulpflicht nicht.
Warst geistig nur zwei Monate alt,
hattest über deinen Körper
kaum sichtbare Gewalt,
wurdest gehalten, gestützt und getragen,
und Zeit deines Lebens
im Rollstuhl gefahren
KrampfAnfälle,
viele kleine, oft auch große
erschwerten dir dein Leben
doch bei allem drumherum
wollten wir dir Freude geben,
Leichtigkeit und Liebe
Grundbedürfnisse galt es stets zu stillen
du hast kaum etwas gefordert,
Licht in der Nacht,
weil die Dunkelheit dich unsicher macht.
Machte, nicht macht,
ich hab wieder mal nicht dran gedacht
denn alles ist Vergangenheit,
Erinnerung, an dich
an uns,
das Einzige, das bleibt.
Immer wieder blende ich es aus,
fest verankert bist du
in meinem Denken
und so nehme ich dir weiter
das Grauen der dunklen Nacht.
Auf deinem Grab
leuchten viele Lichter,
denn du hast es immer hell gehabt.
Die Zeit mit dir hat angehalten,
als hätte sie sich abgespalten.
Als gäb es parallele Welten
in denen andre Regeln gelten.
Gefühlt hab ich dich immer
gestern erst gesehen
und diese Zeitlinie
bleibt einfach stehen.
Es ist so schwer in Worte einzuhüllen
wenn Kopf und Herz,
Gefühl und Verstand,
gehen Hand in Hand,
verstehen sich, doch
dann funkt das Auge rein,
liest deinen Namen auf dem
weißen Marmorkreuz,
deinem Grabstein
und sagt dem Herz und dem Verstand
dass das Leben weitergeht,
bis irgendwann
mein Name neben deinem steht.
Du wolltest nur die kleinen Dinge,
Essen, Trinken, Sicherheit,
Nähe spüren, Stimmen hören,
Sonne nur ganz knapp am Rand,
zu schnell hätt sie dich sonst verbrannt.
Ein Leben in ganz ruhigen Bahnen,
manch einer dachte an Tristesse,
doch schlimm waren nicht die seichten Tage,
heftig für dich,
waren Stunden voller Stress.
Zu viel Lärm,
Unruhe,
Hektik,
aufziehende Wolken
und niedriger Luftdruck
machten dich krank und
feuerten deine Krampfanfälle an.
Ein kleines Leben unter vielen,
das für uns ein ganz besonderes war,
viel durch dich, mit dir erlebt,
dem erstgeborenen Kind,
und von jetzt auf gleich
viele alltägliche Abläufe,
mit dir gestorben sind.
In den über 30 vergangenen Jahren
keine Luftschlösserträume möglich waren,
oder doch,
sie waren möglich,
mit ewig bittrem Beigeschmack.
Jetzt traue ich mich kaum zu sagen,
dass,
die Verantwortung nicht mehr zu stemmen,
nicht zu müssen, können oder dürfen,
eine schwere Last von den Schultern nimmt.
Verantwortung ist nur ein Wort
unsichtbar, ohne Gewicht
doch über Jahrzehnte,
tagein, tagaus,
ging mir langsam auch die Puste aus.
Ich hätt dich nie allein gelassen
und sie ewig noch getragen,
die Verantwortung und besonders dich,
zur Not auch noch auf allen vieren,
denn der Preis „der Freiheit“
war doch der, dich zu verlieren.
Die Angst um dich
und vor dem neuen Tag
durfte ich jetzt ziehen lassen,
sie beginnt nun langsam zu verblassen.
Das schlechte Gewissen
hängt mir stets im Nacken
weil ich frei über meine Zeit verfügen kann,
man man man,
weil mein Leben, von außen betrachtet,
leichter geworden ist,
und etliche sagen,
„Jetzt bist du auch einmal dran!“
Viele, die mich kannten, dachten,
dass es so schwer war,
doch selten habe ich so empfunden,
oder es mir eingestanden,
du warst mein Kind und
es war so, wie es war.
Ja, so einiges wird mir im Nachgang klar.
Ich habe durch dich
eine Tiefe in mir entdeckt,
die sich sonst vielleicht hätt
ein ganzes Leben lang versteckt,
Du hast mich in deine Welt entführt,
mir durch dein reduziertes Leben
einen demütigen Blick
auf die Realität gegeben
und mich unten auf dem Boden gehalten,
weil für uns stets die essenziellen
Dinge des Lebens galten.
Unser Leben, ja, so bodenständig war,
geerdet, wie es erdiger nicht geht,
weil man fest
mit beiden Beinen im Leben steht,
Ich Danke dir,
für die Geduld,
die du mit mir aufbringen musstest,
als ich noch nicht wusste,
wie du im innern tickst.
Es war ein Lernprogramm
der anderen Art.
Leben lernen, gefühlt auf deinem Rücken.
Nichts, mit dem ich könnt mich schmücken,
vielleicht wurdest du geboren,
damit wir das genügsame Leben
nicht aus den Augen verloren?
Ein Krankenhauskeim?
Als Unheilbringer,
wer braucht denn die verfluchten Dinger?
Alles wurd von den Ärzten
als „Schicksal“ abgetan.
Wer glaubte je daran?
Ich fragte mich oft,
warum du dieses Schicksal tragen musstest?
Ob du in deinem Innern wusstest,
dass du hättest hüpfen können?
Ich bin dir dankbar,
unendlich dankbar
dass ich das Leben
durch deine Augen sehen durfte,
deine Augen, die doch blind waren.
RE: SGZ Nr. 44 Ich danke dir
in Die Geschichten der Woche 03.11.2024 21:58von Jana88 • Federlibelle | 573 Beiträge | 1320 Punkte
Oh wahnsinn, ich habe Tränen in den Augen gehabt.
Unglaublich gefühlvoll, liebevoll.
Ich habe keine Worte dafür.
Danke, dass du das mit uns teilst.
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Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende *Oscar Wilde
RE: SGZ Nr. 44 Ich danke dir
in Die Geschichten der Woche 04.11.2024 09:26von Poetrymaus • Forums-Schmetterling | 56 Beiträge | 320 Punkte
@Jana88
Ich danke dir, es freut mich, wenn ich mit meinen (realen) Texten berühren kann.
Es ist mein Ventil der Verarbeitung.
Einen lieben Gruß
Claudia
RE: SGZ Nr. 44 Ich danke dir
in Die Geschichten der Woche 04.11.2024 12:14von Bree • Federlibelle | 4.649 Beiträge | 19121 Punkte
Liebe @Poetrymaus
sehr berührende, nachdenklich machende Zeilen. Es ist kaum vorstellbar, wie viel du geleistet und gelitten hast, wie anstrengend es manchmal gewesen sein muss. Und dennoch merkt man deinen Worten an, dass du keine Sekunde würdest missen wollen.
Es ist leicht zu sagen: Das Leben geht weiter. Auch, wenn es so ist. Aber Erlebnisse und Schicksalsschläge prägen ein Leben, verändern es. Ich wünsche dir und deiner Familie, dass ihr nie vergesst und es euch trotzdem gelingt, euer Leben zu genießen. Mir scheint, du bist auf einem guten Wege.
Weiterhin viel Kraft wünscht dir
Bree
Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)
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Alles über meine Bücher & mich findet ihr auf meiner Website: www.brittabendixen.de
RE: SGZ Nr. 44 Ich danke dir
in Die Geschichten der Woche 17.11.2024 09:06von Doro • Federlibelle | 2.515 Beiträge | 9878 Punkte
Liebe @Poetrymaus ,
traurig und gleichzeitig wunderschön. Danke.
Als meine Mutter gestorben war, ich war 28, hatte ich in den Monaten immer ein schlechtes Gewissen, weil ich sie zu wenig besucht hatte, weil ich damals nicht wahrhaben wollte, wie krank sie war - aber auch, wenn ich gelacht habe, weil ich dann immer denken musste, sie wird niemals mehr lachen. Das ist jetzt 30 Jahre her, aber das schlechte Gewissen, zu wenig Zeit für sie gehabt zu haben, das blitzt immer wieder hervor.
Im Gegensatz zu mir, warst du rundum für dein Kind da, und hast Großartiges geleistet. Darauf kannst du stolz sein. Viele hätten das nicht geschafft oder aufgegeben.
Zitat von Poetrymaus im Beitrag #3Das ist schön, wenn es dir hilft. Geht mir auch so.
Es ist mein Ventil der Verarbeitung.
LG
Doro
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)
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