Ich stelle mich mal vor, ich heiße Oliver, bin 46 Jahre alt und arbeite als Ingenieur beim Autozulieferer. Ich habe eine Ehefrau, drei halbwüchsige Kinder und ein Einfamilienhaus in der Vorstadt. Mit anderen Worten, ich habe es geschafft.
Seitdem der amerikanische Konzern unseren Betrieb übernommen hatte, haben die Bosse einige Neuerungen eingeführt. Unter anderem ein hartes Wettbewerbsystem zwischen den einzelnen Abteilungen. Bei der letzten Betriebsversammlung wurde unsere kleine Abteilung als Erfolgreichste prämiert. Der Preis dafür war ein langes Wochenende für die ganze Gruppe nach Malle. Prima! Wir sechs freuten uns wie die Penäler auf die Abifahrt nach LLoret del mar. Eine Woche mit den Kumpels und vor allem ohne unsere Familien!

Unsere Ehe liegt seit einiger Zeit heftig in Schieflage, das liegt vorallem an Simone, meiner Gattin, die sich neuerdings auf einem Selbstfindungstrip befindet. Damit geht sie mir gehörig auf die Nerven. Sie hatte mir mal wieder nicht richtig zugehört und wusste deshalb angeblich nichts von unserem langen Wochenende auf Malle. Dabei stand das schon seit über einem halben Jahr fest. Montagabend fiel sie deswegen aus allen Wolken und machte mir eine Szene. Aber diesmal habe ich mich nicht kleinkriegen lassen, mich nicht entschuldigt oder einen Rückzieher gemacht. Sie soll einfach sehen, wie sie das auf die Reihe bekommt. Ich brauche einfach einen Tapetenwechsel und der Urlaub auf Malle wird mir guttun. Mein Überstundenkonto ist schießlich schon dreistellig. Die restliche Woche daheim verlief wortkarg aber ich blieb stur und außerdem hatte ich in der Firma alle Hände voll zu tun.
Vorgestern hatte ich meinen Kleiderschrank inspiziert und nur die üblichen Sachen gefunden, Jeans, langweile Hemden und T-Shirts in gedeckten Farben. Meine Badehose machte mir Kummer, sie war noch aus meiner Jugend ich passte beim besten Willen nicht mehr hinein. Beim Blick in den Spiegel, sah ich noch wie die Hose unter meinem Bauch verschwand. Wahrscheinlich hatte Simone sie zu heiß gewaschen. So fahre ich nicht nach Malle. Meine Frau, die den größten Teil meiner Garderobe kauft, hat einfach keinen Geschmack konstatiere ich und beschloß mir für den Malletrip neue Klamotten einzukaufen.
Donnerstagnachmittag verbrachte ich dann im Outlet um mich neu einzukleiden. Ich fuhr schon nach dem Mittagessen los und stöberte in den Läden für Herrenbekleidung nach passender Freizeitbekleidung für vier Tage und landete in einem dieser Modeläden, wo mich ein junger,sehr dünner und hochnäsiger Verkäufer nach meiner Größe fragte. Woher sollte ich die wissen, wer von uns war denn hier der Fachverkäufer?
Ich sage auf Grade wohl 42 woraufhin der blondierte, Verkäufer unverschämt grinste und mir eine 46 reichte und etwas von Bauchgröße faselte.
Es war beschämend! Er reichte mir wild gemusterte Hemden in knalligen Farben, in denen ich wie ein Papagei aussehen würde. Ein Papagei in einer neonfarbenen Wursthülle! Dazu gab er mit Hosen, deren Schritt zwischen meinen Knien schaukelte und die schon im Geschäft tiefe Risse hatten.
In der Umkleidekabine traute ich meinen Augen nicht. Im Spiegel sah ich einen auf gedunsenen Kerl mit Halbglatze, der in schreiendbunten Klamotten steckte. Das Hemd sah aus, als hätte man mich hineingeschossen, die Knöpfe umschlossen nur mühsam den blassen haarigen Bauch. Es war demütigend. Ich schauderte, entledigte mich der peinlichen Sachen und verließ die Kabine. Der Verkäufer stand lässig und sichtlich amüsiert mit einem anderen jungen Gecken zusammen und tuschelte. Ich gab ihm die Sachen zurück. „Soll ich dir noch etwas anderes zeigen?“ frage er mich süffisant grinsend. Als ich das Angebot freundlich aber bestimmt ablehnte, lachte er exaltiert und verwies mich an das Nachbargeschäft, welches auch Mode für Senioren hätte. Ich wäre fast über diese Unverschämtheiten explodiert und wollte mich schon beschweren, als sich ein paar ebenso junge Gecken sich über mich lustig machten.


Ich trat also den taktischen Rückzug an und ging ins Nachbargeschäft, wo ein Verkäufer meines Alters Verständnis für mich hatte und ein paar geschmackvolle und vor allem heile Hosen und Hemden für mich aussuchte. An der Kasse bezahlte ich ein kleines Vermögen mit dem guten Gefühl passend ausgestattet zu sein. Dann besorgte ich noch einen neuen Koffer und ein paar weitere Reiseutensilien und bezahlte erneut ein kleines Vermögen. Als ich im Auto saß hatte ich ein schlechtes Gewissen. Was würde Simone sagen?
Daheim angekommen packte ich meinen Koffer diesmal selbst. Sonst hatte das immer Simone für mich gemacht, doch der wollte ich die neue, teure Kleidung nicht auf die Nase binden. Sie hätte dann bestimmt eine Riesenszene gemacht und darauf hatte ich keine Lust, weil ich mich immer noch über den jungen Gecken in dem ersten Laden ärgerte.
Heute früh soll losgehen, noch einmal jung sein und das unbeschwerte Gefühl genießen, das alles möglich ist. Ich steig ins Auto und drehte die Musik ganz laut. Bruce Springsteen, Born in the USA.

Sehr amüsant geschrieben.
Endlich lernt Oliver, sich seine Kleidung einmal selbst zu kaufen. Ein jüngerer Verkäufer wollte ihn modisch und jung kleiden, aber dies passte nicht zu Oliver , und er fühlte sich darin überhaupt nicht wohl. Schnell verließ er dieses Geschäft und fand dann einen modischen Herrenausstatter, mit netter Bedienung und ihm gerechten Sachen.
Recht so, sich keinen ÄÜrger mit seiner Frau wegen der teuren Kleidung einzuhandeln.
Mit lauter Musik aus dem Autoradio ging seine Fahrt in das kleine neue Leben los.
Gefällt mir deine Geschichte, flüssig und trotz allem Ärger und den Hindernissen, ist Oliver in guter Zukunftsstimmung.

@Rieke.ke

dein Text ist so humorvoll mit einer Portion Ironie geschrieben, dass ich mich beim Grienen erwischt habe.
Es sind Situationen "wie das Leben sie bereit hält", nur muss man sie sehen. Das hast du und zwar mit
einem herrlichen Blick auf die Komik, die drin steckt. Ein älterer Mann, der sich für einen jungen, gut aussehenden Mann
"gerade in seinen besten Jahren" hält und dann mit seinem Spiegelbild konfrontiert wird, das im etwas ganz anderes zeigt. Wie wäre es, wenn du ihm nach Malle folgst und erzählst, was dort mit ihm geschieht.
Danke für den Text - es hat mir Spaß gemacht, ihn zu lesen.