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SGZ 33/2024 Die Milchsuppe
in Die Geschichten der Woche 24.08.2024 21:03von Yggdrasil • Federlibelle | 1.247 Beiträge | 3190 Punkte
'Splash' macht es. Diesem Geräusch war ein mehrfaches Würgen zuvor gegangen. Nun verteilte sich die Milchsuppe über den Frühstückstisch. Ein saurer Geruch stieg auf.
Marianne versteckte ihre Hände im Schoß und senkte den Kopf.
"Was fällt dir ein?"
Die grelle Stimme der Pflegerin Hermine ließ alles Gemurmel der zwanzig Jungen und Mädchen im Speisesaal verstummen.
Marianne sackte noch mehr in sich zusammen. Ihre Schultern begannen zu zucken.
"Aber ich habe doch gesagt ..."
Der Schlag mit dem Holzlöffel beendete den Erklärungsversuch des Mädchens.
"Halte den Mund, du Sau!"
Ein weiterer Hieb landete auf dem Hinterkopf.
"Aber Marianne hat doch zuvor gesagt, dass sie keine Milch verträgt."
Das war Lothar, Mariannes Tischnachbar.
"Was mischst du dich ein?" Die Pflegerin hob die Hand mit dem Holzlöffel.
"Aber es musste doch so kommen, weil sie doch ..."
Lothar hatte sich tapfer für das Mädchen eingesetzt. Den Schlag auf den Hinterkopf steckte er weg.
"Du vorlauter Kerl. Na warte."
Hermine beugte sich vor und drückte den Kopf des Jungen auf den Tisch.
"Na los, lecke das Ausgekotzte auf!"
Sie griff fest in Lothars Haar und bewegte seinen Kopf hin und her, sodass der mit der Nase und den Lippen durch die noch lauwarme Milchsuppe rutschte.
"Hast du nun genug? Nein? Dann nochmals eine paar Schlucke."
Wieder führte sie Lothars Kopf mit Gewalt über den Tisch.
"Das reicht, Hermine!"
Das war die Stimme des Heimleiters.
"Und ihr beide kommt zu mir ins Büro. Aber vorher macht ihr den Schweinkram weg. Verstanden?"
Lothar und Marianne standen vor dem Tisch des Heimleiters.
"Nun erzählt, was passiert ist."
Die beiden sahen sich an. Marianne nickte Lothar zu. Und er begann zu erzählen, von Mariannes Milchunverträglichkeit, und dass das Mädchen dies vorher zur Pflegerin gesagt hatte, dass die das aber nicht wahrhaben wollte. Und ...
"Da werde ich wohl mal mit Hermine reden müssen. Aber was du dir erlaubt hast, Lothar, das kann ich auf keinen Fall durchgehen lassen. Du darfst niemals das Wort gegen unser Personal erheben. Das ist aufsässig. Dafür wirst du eine Strafe bekommen. Du, Marianne, kannst auf dein Zimmer gehen."
Das Mädchen sah kurz zu Lothar hinüber, dann aber machte sie einen Knicks und verließ den Raum.
"Komm, Lothar, zieh dich aus, ganz nackend."
Der Heimleiter hatte den Jungen in den Duschraum gebracht. Kalte Fliesen auf dem Fußboden und an allen Wänden. Acht Duschköpfe waren an der Decke angebracht.
"Du wirst nun eine kalte Dusche bekommen. Das wird dir deine Flausen austreiben. Aufsässigkeit dulden wir hier nicht."
Lothar hatte gehorcht. Mit gekreuzten Armen stand er neben dem Leiter.. Der hatte den Hahn voll aufgedreht, kälteste Stufe.
"Du zitterst jetzt ja schon. Nun aber unter den Strahl!"
Energisch schob er den Jungen unter die eiskalten Strahlen.
Der Mann schaute auf die Uhr.
"Drei Minuten musst du es aushalten, keine Sekunde weniger."
Lothar hielt aus, zitternd und bebend, aber ohne einen Laut von sich zu geben."
"Das reicht."
Das Wasser versiegte, ein paar letzte Tropfen fielen hinab.
"Komm her Lothar."
Plötzlich klang die Stimme des Heimleiters weich und freundlich.
"Komm, mein Junge, ich werde dich jetzt abrubbeln."
Er legte ein Handtuch um Lothars Schultern, trocknete sie, dann den Rücken, den Po, die Beine ....
"So ein hübscher Junge, aber ohne Manieren. Aber die werde ich dir beibringen, Lothar, auf meine Art. Oh, da bist du ja noch ganz nass."
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Diese Geschichte soll 1959 spielen, in einem Kinderheim im Teutoburger Wald, in Bad Rothenfelde. Damals wurde viele Kinder "auf Erholung" geschickt. Meist waren es kleinere, schwächere Kinder, die während des sechswöchigen Aufenthaltes aufgepäppelt werden sollten. Ich gehörte auch dazu. Diese Geschichte ist aber nicht biografisch, aber ich habe die Berichte zur Aufarbeitung der Übergriffe in den Kinderheimen gelesen.
Ich selber habe ausgesprochen gute Erinnerungen an die Zeit, und mein Heim der Familie Westerfrölke ist auch nie negativ vermerkt worden. Andere in Bad Rothenfelde schon.
Meinen positiven Bericht wollte man aber nicht in die Dokumentation aufnehmen.
www.marten-petersen.com
RE: SGZ 33/2024 Die Milchsuppe
in Die Geschichten der Woche 25.08.2024 01:17von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.285 Beiträge | 10173 Punkte
Hallo @Yggdrasil, du schilderst die Situation im Kinderheim eindringlich und drastisch. Leider war um 1959 - und wahrscheinlich noch eine ganze Zeit später - die Erziehung der Kinder anders. Da waren die Eltern womöglich auch nicht sofort alarmiert oder haben vielleicht den Kindern nicht alles geglaubt, wenn sie was erzählt haben. Zumindest viele Eltern, stelle ich mir vor. Ich finde es schade, dass Deine positiven Erlebnisse im Kinderheim nicht berücksichtigt wurden, sehr schade sogar. Ich mag es nicht, wenn nur schwarz - weiß gemalt wird. So ist das Leben nun mal nicht.
Sehr gut erzählt
erzählt.
LG
Carlotta Lila
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Unsere größte Schwäche liegt im Aufgeben. Der sicherste Weg zum Erfolg ist immer, es noch einmal zu versuchen.
Thomas Alva Edison
RE: SGZ 33/2024 Die Milchsuppe
in Die Geschichten der Woche 25.08.2024 06:38von Sturmruhe • Federlibelle | 1.293 Beiträge | 5828 Punkte
@Yggdrasil
Beim Lesen deiner Geschichte wurde mir ganz anders. Erinnerungen an ein Kinderheim in Bad Soden Allendorf kamen hoch. Ich wurde – 1959, glaube ich - über die Firma, bei der mein Vater angestellt war, dorthin verschickt. Ein für die Eltern kostenloses Angebot des Unternehmens. Ich hatte eine schwache Blase und in Bad Soden gab es heiße Quellen, die Solebäder sollten in solchen Fälle heilsam sein. Ganz so drastisch wie in deiner Geschichte ging es dort zwar nicht zu, es wurde nicht geschlagen. Es gab auch keine sexuellen Übergriffe, es war ein reines Mädchenheim mit ausschließlich weiblichen "Tanten". Aber wir Kinder wurden behandelt wie Sträflinge – das heißt, nicht alle, die „Tante“, die für uns zuständig war, hatte ihre Lieblinge. Ich gehörte nicht dazu, weil ich nachts öfter mal ins Bett machte - der Grund aus dem ich dorthin geschickt worden war. Wer nicht zu den Lieblingen gehörte, wurde vor der gesamten Kinderschar gedemütigt und die Bestrafung für die kleinsten Sünden war ohne Nachtisch ins Bett zu müssen, während alle anderen noch spielen durften. Oder du musstest von einer Ecke aus zuschauen, wenn die anderen etwas Besonderes unternahmen. Natürlich traf es mich des öfteren, ich war kein „braves“ Mädchen und hatte gerne mal Widerworte oder war „zu ausgelassen“. Auf dem Bett herumspringen beispielsweise und natürlich ins Bett machen zog harte Maßregelungen und öffentliche Demütigungen nach sich. Ich war dort todunglücklich, und ich war nicht die Einzige.
Wir mussten regelmäßig nach Hause schreiben, aber jeder Brief wurde kontrolliert und wir mussten ihn neu schreiben, wenn etwas Negatives darin auftauchte. Ich weiß noch, dass ich nach der ersten Erfahrung damit heimlich zwei Briefe schrieb, einen, den ich vorzeigte, und einen, auf den ich mich setzte. Nachdem alles kontrolliert worden war, tauschte ich die Seiten aus und steckte den anderen Brief in den Umschlag. Aber meine Eltern glaubten mir nicht so recht, sie konnten sich nicht vorstellen, dass die Fachkräfte in einem Kinderheim so mit den ihnen anvertrauten Kindern umgingen. Man war damals auch sehr obrigkeitsgläubig, alles was weiße Kittel trug, Lehrer war oder mit dem Arbeitgeber zu tun hatte, hatte immer Recht. Also holten sie mich nicht früher zurück, ich musste die ganzen Sommerferien über dort bleiben. Ein wirklich traumatisches Erlebnis, auch ohne, dass mir das Gesicht in Kotze gedrückt wurde.
Ganz bestimmt gab es auch andere Heime, so wie das, von dem du berichtest und das leider in dem Bericht nicht erwähnt werden durfte. Aber damals lag das Hauptaugenmerk der Erziehung sowieso auf anderen Aspekten. Du hattest zu gehorchen und ein braves Mädchen zu sein. Das war ich nun mal nicht und bin auch nie eins geworden. Und für alle Kinder, die so waren wie ich, muss es in solchen Heimen die Hölle gewesen sein!
LG Marion
„Wir sind das, was wir wiederholt tun. Vorzüglichkeit ist daher keine Handlung, sondern eine Gewohnheit.“
Aristoteles
RE: SGZ 33/2024 Die Milchsuppe
in Die Geschichten der Woche 26.08.2024 08:44von Bree • Federlibelle | 4.527 Beiträge | 18454 Punkte
Lieber @Yggdrasil
der Titel deiner Geschichte kam so harmlos daher, von der Story selbst aber war ich geschockt. Obwohl ich weiß, dass es solche Heime gab. Ich bin froh und erleichtert, dass du andere Erfahrungen machen durftest. Dass dein positiver Bericht nicht genommen wurde, ist ein Armutszeugnis. Aber schöne, harmonische Geschichten verkaufen sich nicht so gut wie anderen, das wird wohl der Grund dafür sein.
Danke für diese aufwühlende Story!
LG
Bree
Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)
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RE: SGZ 33/2024 Die Milchsuppe
in Die Geschichten der Woche 27.08.2024 08:13von Yggdrasil • Federlibelle | 1.247 Beiträge | 3190 Punkte
@Bree Danke - aber nein, daran lag es nicht. Es war keine Literaturausschreibung, sondern eine wissenschaftliche Aufarbeitung und Dokumentation, was damals geschehen ist. Es war wohl eher der Auftrag, das Leid zu erfassen, nicht aber die positiven Beispiele. Finde ich schade, so geraten alle Heime unter Generalverdacht.
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RE: SGZ 33/2024 Die Milchsuppe
in Die Geschichten der Woche 27.08.2024 08:15von Yggdrasil • Federlibelle | 1.247 Beiträge | 3190 Punkte
@Sturmruhe Dann ist es bei dir ja glimpflich abgegangen, es hätte viel schlimmer kommen können.
Danke fürs Lesen.
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RE: SGZ 33/2024 Die Milchsuppe
in Die Geschichten der Woche 27.08.2024 08:16von Yggdrasil • Federlibelle | 1.247 Beiträge | 3190 Punkte
@Carlotta Lila Ich danke dir.
Du schreibst, die "Erziehung" war damals anders. Mag sein, aber das war damals wie heute schlicht und ergreifend ein Verbrechen.
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RE: SGZ 33/2024 Die Milchsuppe
in Die Geschichten der Woche 27.08.2024 11:22von Sturmruhe • Federlibelle | 1.293 Beiträge | 5828 Punkte
Ja @Yggdrasil, kein Vergleich mit den Zuständen in deiner Geschichte. Dennoch fühlte es sich für mich damals offenbar so schlimm an, dass die Erinnerung daran nach all den Jahrzehnten sofort hochkam, nachdem ich sie gelesen hatte. Ich denke, es ist die Hilflosigkeit, Demütigung und das Gefühl von Einsamkeit mitten in einer großen Gruppe, gefangen in einer für ein Kind ziemlich unerträglichen Situation, ohne Unterstützung und Halt.
LG Marion
„Wir sind das, was wir wiederholt tun. Vorzüglichkeit ist daher keine Handlung, sondern eine Gewohnheit.“
Aristoteles
RE: SGZ 33/2024 Die Milchsuppe
in Die Geschichten der Woche 27.08.2024 11:41von Yggdrasil • Federlibelle | 1.247 Beiträge | 3190 Punkte
@Sturmruhe Ja, auf jeden Fall ist so etwas prägend.
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RE: SGZ 33/2024 Die Milchsuppe
in Die Geschichten der Woche 27.08.2024 19:57von Rieke.ke • Fleißbiene / Fleißdrohne | 15 Beiträge | 133 Punkte
Vielen Dank für Deinen Beitrag, er hat mich mitgenommen.
Dein Text erinnert mich an die Zeit, als ich anfing in der Jugendhilfe (Heim)zu arbieten. Damals in den achtziger Jahren gab es diese Verhältnisse schon lange nicht mehr. Wir mussten für eine Dokumentation anlässlich eines Jubiläums im Archiv interessante Texte finden. Aus den Akten der fünfziger und sechziger Jahren konnte man ahnen, was da so los war. Ähnliches und Schlimmeres.
Zur Einordnung, 1959 war 14 Jahre nach Kriegsende, die Menschen hatten Grausames und Hunger erlebt, waren überwiegend traumatisiert. Heimerzieherinnen war nicht ausgebildet und die Arbeitsbedingungen waren unvorstellbar für heutige Verhältnisse. Das soll nichts entschudigen aber erklären.
RE: SGZ 33/2024 Die Milchsuppe
in Die Geschichten der Woche 27.08.2024 23:18von Poetrymaus • Fleißbiene / Fleißdrohne | 36 Beiträge | 183 Punkte
Der erste Text, den ich hier lese und ich finde den Inhalt gruselig, vielleicht, weil die Realität oft gruseliger ist, als vieles, das man sich ausdenken kann.
Die Vorstellung, dass es Kindern wirklich so erging und sicherlich hinter mancher verschlossener Tür auch heute noch so geht, ist grausam. Kleine Seelen sollen behütet werden, nicht gequält.
Ich werde nie die Menschen verstehen, die andere demütigen und sich an ihnen vergehen, körperlich oder seelisch.
RE: SGZ 33/2024 Die Milchsuppe
in Die Geschichten der Woche 28.08.2024 08:10von Yggdrasil • Federlibelle | 1.247 Beiträge | 3190 Punkte
@Poetrymaus Danke für deinen Kommentar. Es tut mir leid, dass ich dir so einen harten Einstand beschert habe. Schönen Tag!
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