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Der Brief - Vendetta
in Archiv 28.06.2024 19:08von Perlfee • Federlibelle | 154 Beiträge | 588 Punkte
Hallo zusammen
Hier mein Beitrag zum Wiesenwettbewerb. Ich hoffe, ihr habt ein bißchen Freude beim Lesen.
Vendetta
Der Brief lag zwischen anderen und sah eher unscheinbar aus.
Friederike erstarrte. Ja, er sah unscheinbar aus, weil sie unscheinbares, schlichtes Briefpapier benutzte. Aber sie erkannte deutlich das kleine Blumenmuster am Rand. Vorsichtig hob sie die Briefe und Papiere, die das Blatt bedeckten, an. Tatsächlich, das war ihr Brief, ihr Brief an Ferdinand von Grubstetten! Was machte der auf dem Sekretär ihrer Schwester? Friederike wurde ganz flau; schnell nahm sie das Stickgarn, dessentwegen sie gekommen war, und suchte ihre eigenen Räumlichkeiten auf.
Friederike ließ sich in ihrem Schaukelstuhl nieder und läutete nach Anna.
„Sie wünschen, gnädiges Fräulein?“
„Bring mir einen kalten Tee. Bitte.“
„Sehr wohl, gnädiges Fräulein.“
Tausend Gedanken schossen Friederike durch den Kopf.
Sie hatte Helene gefragt, ob sie noch vom Stickgarn in Preußischblau habe, ihres war zur Neige gegangen. Helene hatte es bejaht und ihr erlaubt, in ihre Zimmer zu gehen; es liege im Nähkorb neben dem Sekretär. Helene mußte also klargewesen sein, dass Friederike den Brief entdecken könnte. Wollte sie das vielleicht sogar? Warum?
Ein vorsichtiges Klopfen unterbrach ihre Gedanken.
„Herein!“
„Ihr Tee, gnädiges Fräulein. Haben Sie noch einen Wunsch?“
„Nein, danke, Anna. Vielen Dank für den Tee.“ Friederike mochte die Bediensteten nicht abkanzeln, wie es sonst üblich war im Haus.
„Sehr wohl, gnädiges Fräulein.“ Mit einem Knicks zog Anna sich zurück.
Der Tee war erfrischend und tat Friederikes erhitztem Gemüt wohl. Sie konnte zurück zu ihren Gedanken. Die wichtigste Frage war: was machte ihr Brief auf Helenes Sekretär?
Nun brauchte sie nicht mehr zu grübeln, ob Ferdinand ihr antworten würde.
Ferdinand von Grubstetten, Graf Ferdinand von Grubstetten, den Friederike vor drei Monaten bei einem Ball auf Gut Ebersloh kennengelernt hatte. Er hatte sie mehrmals zum Tanz aufgefordert, bei Tisch hatten sie sich gut unterhalten, und es war ihr nicht entgangen, dass sie ihm gefiel. Zweimal waren sie sich seitdem begegnet. Friederike war einer Einladung seiner Tante gefolgt, ihr Gestüt Holdesruh zu besichtigen; Ferdinand war ihr Führer gewesen. Er hatte sie und die Tante auf unterhaltsame Weise durch Stallungen und Reithalle geführt und ihnen die Pferde vorgestellt. Zum Abschluß unternahmen sie eine Kutschfahrt über das weitläufige Gutsgelände, auf dem das Gestüt lag. Seine humorvolle Art hatte Friederike verzaubert; sie hatte große Hoffnungen gehabt, ihn wiederzusehen.
Dazu war es kaum vier Wochen später gekommen. Der siebzigste Geburtstag Baron Hesselstamms stand an, und natürlich war eine Einladung an Friederikes Familie ergangen. Sie erinnerte sich noch genau, wie hoch ihr Herz geschlagen hatte, als sie gesehen hatte, dass auch Ferdinand unter den Gästen war! Welch rauschendes Fest es gewesen war, vor allem durch Ferdinand …
Vor zwei Wochen dann ein Brief: Ferdinand lud Friederike im Namen seiner Tante zu einem gemeinsamen Picknick am Sedantag ein. Sie möge bitte mitteilen, ob sie der Einladung folgen könne. Im Falle einer Zusage würde sich Ferdinand – im Namen der Tante - melden.
Das hatte sie natürlich sofort mit dem Vater besprochen, der seine Zustimmung erteilt hatte. Er kannte die Tante gut, war sehr lange mit ihrem verstorbenen Mann befreundet gewesen. Friederike hatte sofort zur Füllfeder gegriffen und ihre Zusage mitgeteilt. Sie hatte den Brief auf das Tablett in der Empfangshalle gelegt; es war an Johann, dem Kutscher, die Post mitzunehmen zur Postagentur zu bringen und von dort auch entsprechend abzuholen. Es war alles wie immer gewesen, nichts Auffälliges, nichts Ungewöhnliches.
Seitdem wartete sie auf das angekündigte Schreiben nach Zusage; Ungeduld machte sich breit.
Heute war schon der 25. Juli, der 2. September rückte näher. Und ihr Brief lag in Helenes Zimmer, auf deren Sekretär! Helene mußte ihn vom Posttablett genommen haben – warum? Wie konnte sie das tun!
Die Schwestern hatten doch ein gutes Verhältnis, oder etwa nicht? Friederike wurde unbehaglich. Es hatte tatsächlich im letzten Sommer ein schweres Mißverständnis gegeben, das fast zu einem Zerwürfnis mit Helene geführt hatte. Friederike hatte sich eher beiläufig mit dem Vater über Herrmann von Bonnenkoven, den Verehrer und wohl zukünfigen Verlobten der Schwester unterhalten. Kurz darauf hatte der Vater dem jungen Mann Hausverbot erteilt und jeglichen Umgang mit Helene verboten.
Helene hatte wochenlang nicht mehr mit Friederike gesprochen. Aber sie hatten das doch geklärt, oder doch nicht? Helene hatte nach der Aussprache versichert, Friederike keine Schuld an Vaters Entscheidung zu geben, es sei ein unglückliches Zusammentreffen gewesen. Ihr Verhältnis war wieder wie vorher geworden, schwesterlich, liebevoll. Hatte sie sich so getäuscht?
Friederike erhob sich aus dem Schaukelstuhl und ging nach unten. Sie fand Helene im Wintergarten, in die Betrachtung der wunderschönen Orchideen versunken.
„Helene, ich habe das Garn aus deinem Zimmer geholt. Ich habe durch Zufall meinen Brief auf deinem Sekretär entdeckt.“
Friederike wollte eine Reaktion abwarten, doch die Schwester schien sie nicht gehört zu haben.
„Helene, ich verstehe es nicht. Warum lag mein Brief dort?“
Mit einem boshaften Lächeln auf den Lippen drehte die Schwester sich um.
„Vendetta.“
Liebe Grüße von der Perlfee, die jetzt endlich die anderen Beiträge lesen darf
Sylvia, Brownie, Pearly und Gimli
Behind every beautiful thing there′s been some kind of pain
(Bob Dylan, Not dark yet)

RE: Der Brief - Vendetta
in Archiv 29.06.2024 12:55von Bree • Federlibelle | 5.226 Beiträge | 22336 Punkte
Liebe @Perlfee
oh, wie gemein Schwestern sein können! Hoffentlich kann Friederike noch zu dem Ball, vielleicht reicht die Zeit noch.
Offen bleibt die Frage, ob Helene damit gerechnet hat, dass ihre Schwester den Brief findet. Ihrer Reaktion zufolge würde ich sagen: Ja.
Eine schöne Story, die viel Gutsherren-Mentalität eines früheren Jahrhunderts versprüht. Sehr gern gelesen!
Toll, dass auch du einen Beitrag eingereicht hast, das freut mich!
LG
Bree
Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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RE: Der Brief - Vendetta
in Archiv 29.06.2024 13:48von Perlfee • Federlibelle | 154 Beiträge | 588 Punkte
Hallo Bree
Vielen Dank! Es hat richtig Spaß gemacht, der Wiesenwettbewerb gefällt mir gut. Mir gefallen solche Aufgaben, denn sie sind eine besondere Herausforderung für mich: fällt mir was ein? Kann ich die Idee umsetzen? Und dann laß ich mich überraschen
Irgendwie gefiel mir auch mal etwas anderes, daher der kleine Ausflug in die Kaiserzeit.
Zitat
Offen bleibt die Frage, ob Helene damit gerechnet hat, dass ihre Schwester den Brief findet. Ihrer Reaktion zufolge würde ich sagen: Ja.
Ja, das hat sie beabsichtigt. Helene hatte extra nochmal betont, daß der Nähkorb neben dem Sekretär steht.
Das ist nix mehr mit schwesterlicher Liebe ...
Ob das für Friederike noch gut geht, und sie zum Picknick kann? Ich denke schon
Ich seh´grad, daß mir dreimal was gefallen hat
Liebe Grüße
Sylvia, Brownie, Pearly und Gimli
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(Bob Dylan, Not dark yet)

RE: Der Brief - Vendetta
in Archiv 01.07.2024 16:35von Gini • Federlibelle | 1.992 Beiträge | 4277 Punkte
@Perlfee irgendwie kann ich Helene schon verstehen. Friederike hat ihr ja auch den Verehrer vermasselt.
Ich hätte gerne gewusst, warum der Vater dem Verehrer von Helene Hausverbot erteilt hat.
War er nicht standesgemäß?
Mir hat deine Geschichte gut gefallen. In welchem Jahrhundert spielt sie?
Gedanken sind nicht stets parat, Man schreibt auch, wenn man keine hat.
Wilhelm Busch (1832-1908)

RE: Der Brief - Vendetta
in Archiv 01.07.2024 16:54von Sturmruhe • Federlibelle | 1.981 Beiträge | 9710 Punkte
Liebe @Perlfee ,
deine Geschichte erinnert mich ein bisschen an die Serie "Bridgerton", deren neue Folgen ich mir in der letzten Woche auf Netflix reingezogen habe - bingewatching, sozusagen. Da hauen sich die englischen Ladys, egal ob Schwestern oder einfach nur gleichgestellte Damen der Gesellschaft auf fieseste Art gegenseitig in die Pfanne, spannen sich die Liebhaber und möglichen Heiratskandidaten aus und rächen sich zuweilen auf höchst undamenhafte Weise. Deine Geschichte würde sicherlich eine gute Vorlage für eine weitere Folge der Serie bieten. Ich habe sie jedenfalls mit Vergnügen gelesen.
LG Marion
„Wir sind das, was wir wiederholt tun. Vorzüglichkeit ist daher keine Handlung, sondern eine Gewohnheit.“ [Biene]
Aristoteles

RE: Der Brief - Vendetta
in Archiv 02.07.2024 01:27von Perlfee • Federlibelle | 154 Beiträge | 588 Punkte
Hallo zusammen
@Gini
Was er genau gemacht hat, weiß ich nicht, da gibt es eine Mauer aus Schweigen. Nicht standesgemäß denke ich auch. Ich habe munkeln gehört, er sei ein uneheliches Kind, das würde ja dann passen.
Die Geschichte spielt in den 1880er Jahren.
@Sturmruhe
Die Sendung kenne ich nicht. Klingt aber ziemlich heftig, oder?
Liebe Grüße
Sylvia, Brownie, Pearly und Gimli
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RE: Der Brief - Vendetta
in Archiv 02.07.2024 05:17von Sturmruhe • Federlibelle | 1.981 Beiträge | 9710 Punkte
Zitat
Die Sendung kenne ich nicht. Klingt aber ziemlich heftig, oder?
Heftig würde ich nicht gerade sagen, es ist alles mit einem gewissen Augenzwinkern dargestellt, ähnlich wie bei Downtown Abby. Aristokraten-England halt. Als Frau musstest du damals und vor allem in den Kreisen beizeiten sehen, wo du bleibst, als alte Jungfer warst du lebenslang von deiner Familie abhängig und nicht sonderlich gut angesehen, es sei denn, du warst eine Erbin. Es gibt in der Serie eine junge Whistleblowerin, von der niemand außer ihrer Schneiderin weiß, dass sie eine Lady aus ihrer Mitte ist. Sie sorgt dafür, dass alle Geheimnisse und die Kungeleien innerhalb der Aristokraten-Familien unter dem Teppich hervorgeholt werden. Auf ihre regelmäßigen Botschaften, die sie über ihre Schneiderin verteilt, lauert die ganze feine Gesellschaft Woche für Woche. Eine andere junge Lady geht heimlich zu Versammlungen für die Rechte der Frauen. Ich mag die Serie und finde sie höchst amüsant.
LG Marion
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Aristoteles

RE: Der Brief - Vendetta
in Archiv 02.07.2024 11:49von Perlfee • Federlibelle | 154 Beiträge | 588 Punkte
Hallo Sturmruhe
Downtown Abby kenne ich auch nur dem Namen nach, vielleicht mal aus einer Vorschau, aber Näheres weiß ich da nicht. Was ich früher tatsächlich gerne gesehen habe, war Haus am Eaton Place.
Ich denke, es war überall schwierig für Frauen aus einer gehobenen Gesellschaftsschicht und dem Adel. Heute kann man sich wohl kaum noch vorstellen, was es für eine Leistung war, sich aus diesem engen Kreis zu befreien, Rechte für sich zu beanspruchen.
Kennst du die Serie "Cold Case - Kein Opfer ist je vergessen"? Da gibt es eine Folge, in der es um Suffragetten geht, die finde ich sehr beeindruckend, die Konkflikte zwischen Mutter und Tochter, der Druck auf Frauen, die zu Versammlungen gingen usw.
Viele Grüße
Sylvia, Brownie, Pearly und Gimli
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RE: Der Brief - Vendetta
in Archiv 02.07.2024 14:27von Sturmruhe • Federlibelle | 1.981 Beiträge | 9710 Punkte
Eaton Place trifft es auch, ich schätze, es ist alles dieselbe Zeit, und ich glaube, zu jener Zeit haben auch die ersten Vorläufer der Frauenbewegung begonnen - sowohl bei "Brigerton" als auch bei "Downtown Abbey" schleichen sich junge Ladies, die es satt haben, mithilfe aufgezwungener Ehen als Verbindungsglied zwischen Adelsfamilien missbraucht zu werden, zu den streng geheimen Versammlungen der Frauenrechtler. Ich vermute, ohne jetzt die genaue Jahreszahl zu wissen, dass die Sufragetten zu jener Zeit bereits in der Wiege lagen.
Ja, Cold Case kenne ich, die Folge aber nicht. Aber es gibt ja sogar heute noch diese Konflikte zwischen Müttern und Töchtern, bei denen es um die freie Entscheidung geht, wie die Tochter ihr Leben gestalten will. Vor allem im dörflichen Bereich ist das mit Sicherheit noch nicht ausgestanden.
LG Marion
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Aristoteles

RE: Der Brief - Vendetta
in Archiv 11.07.2024 10:49von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.335 Beiträge | 10531 Punkte
Liebe @Perlfee, ich lese gerne historische Geschichten mit Familienintrigen und boshaften Schwestern!
Ich hätte ja zu gerne gewusst, was in dem Brief gestanden ist! Bleibt zu hoffen, dass nicht beide Schwestern als alte Jungfern enden (-;
Herzliche Grüße
Carlotta Lila
https://www.leseflamme.jimdofree.com
Unsere größte Schwäche liegt im Aufgeben. Der sicherste Weg zum Erfolg ist immer, es noch einmal zu versuchen.
Thomas Alva Edison

RE: Der Brief - Vendetta
in Archiv 16.07.2024 21:31von Jana88 • Federlibelle | 676 Beiträge | 1533 Punkte
Oh weia, da denkt man, alles sei geklärt, und dann sowas.
Das hast du richtig gut geschrieben, und der Brief kommt wohl nun nicht mehr rechtzeitig an. Was das nur für die Zukunft bedeutet? Spannend.
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Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende *Oscar Wilde

RE: Der Brief - Vendetta
in Archiv 17.07.2024 00:38von Perlfee • Federlibelle | 154 Beiträge | 588 Punkte
Hallo Jana und Carlotta
Vielen Dank
In dem Brief hat Friederike Ferdinand die Zusage für das Picknick mitgeteilt. Sie hat dann noch geschrieben, wie sehr sie sich darauf freut, wie sie sich freut, die Tante wiederzusehen, ihn natürlich auch. Sie kann das ja nicht direkt schreiben, hat aber durchblicken lassen, daß es ihr um ihn geht.
Der Brief wird nicht rechtzeitig kommen, denke ich auch. Das ging damals ja nicht ganz so schnell wie heute. Und wenn viele Vorbereitungen für das Picknick getroffen werden müssen, ist es ja doof ohne Zusage des Gastes - vielleicht fällt das sogar ganz ins Wasser.
Liebe Grüße
Sylvia, Brownie, Pearly und Gimli
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RE: Der Brief - Vendetta
in Archiv 21.07.2024 17:50von Doro • Federlibelle | 2.731 Beiträge | 10978 Punkte
Hallo @Perlfee ,
Kopfkino lief mit beim Lesen.
Da muss Frederike halt nochmals einen Brief schreiben und sich für die verspätete Antwort etwas einfallen lassen, wenn sie ihre Schwester nicht bloßstellen will. Obwohl diese das verdient hätte.
Gern gelesen.
LG
Doro
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)

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