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Brief - Die Entscheidung
in Archiv 09.06.2024 10:04von Doro • Federlibelle | 2.731 Beiträge | 10978 Punkte
Die Entscheidung
Der Brief lag zwischen anderen in einem Schuhkarton und sah eher unscheinbar aus.
Kaya überlegte, wollte ihn eben aufreißen, als Mama ins Zimmer kam.
„Mensch Kaya, du solltest doch Omas gute Klamotten in einen Müllsack packen, damit ich sie zur Diakonie bringen kann. So werden wir nie fertig.“
„Gleich. Schau mal“, Kaya hielt den Packen hoch. „Briefe an Oma. Willst du die behalten?“
„Nein. Wirf sie weg.“
„Darf ich sie lesen?“
„Von mir aus. Aber zuerst räumen wir die Klamotten aus dem Schrank.“
Kaya nickte, legte den Stapel beiseite und half, Omas Sachen zu sortieren.
Kopfschüttelnd hob sie eine Unterhose hoch. „Das ist gruselig.“
Mama grinste. „Sollte ich jemals so einen Schlüppi tragen, kannst du mich einweisen lassen.“
„Schlüppi. Echt jetzt? Wasn das für ein Wort?“
„Wenn du was behalten willst, nimm es dir. Ich brauch nix.“
„Warum hasst du Oma?“
Mama zuckte die Achseln. „Hassen ist ein starkes Wort. Sie hat uns nicht geliebt, mich noch weniger als meine Brüder.“
Kaya sah sich im Zimmer um, deutete auf das Kreuz über dem Bett. „Das hätte ich gern.“
Mama wirkte überrascht. „Klar. Ich wusste nicht, dass …“
„… dass ich an Gott glaube? Du hast mich doch taufen lassen und zum Konfi-Unterricht geschleppt.“
Mama wirkte verlegen. „Weil man das halt so macht und weil alle anderen auch hingegangen sind.“ Sie verzog das Gesicht. „Alles Wertvolle im Haus ist eh schon weg.“
Da Kaya keine Lust auf Streit hatte, ließ sie den Themenwechsel durchgehen.
„Meine Onkels? Die ich praktisch auch nicht kenne. Warum habt ihr nicht einen gemeinsamen Termin ausgemacht? Erbst du das Haus wenigstens?“
Mama stieß ein Lachen aus, aber es klang nicht fröhlich. „Wäre schön, wenn die helfen würden. Die haben sich die letzten Jahre nicht blicken lassen. Und nein, ich erbe nix. Das Haus gehört der Bergbaugesellschaft. Die Oma hatte einen Mietvertrag auf Lebenszeit. In den letzten Jahren hat sie ein paar Mal ein Tausch-Angebot bekommen. Eine Zweizimmererdgeschosswohnung mit kleinem Garten, zentrumsnah. Hat sie abgelehnt.“
„Würde ich sofort nehmen.“
„Hast du dich entschieden, was du studieren willst?“
„Mama, ich hab seit vier Wochen mein Abi. Erst mal chillen.“
„Aber nicht zu lang“, murmelte Mama.
„Vielleicht mach ich eine Ausbildung. KP. Kein Plan.“
Mama hob die Hände, als wollte sie sich ergeben und widmete sich den Klamotten, die sich auf dem Bett stapelten. Bald war alles in Müllsäcke gestopft und verschnürt. Im Gegensatz zum übrigen Haus war Omas Garderobe übersichtilich. Kaya setzte sich auf eine Treppenstufe. „Das schaffen wir nie bis zum Dreißigsten.“
„Mir fällt schon was ein. Komm“, Mama nahm zwei der Beutel und trug sie zur Haustür, „lass uns die wegbringen, dann fahren wir heim. Auf dem Rückweg holen wir Pizza.“
*
Als die Pizza verspeist war, nahm sich Kaya die Briefe vor. Geburtstagsgrüße, Weihnachtskarten, einige Umschläge einer Brieffreundin und der unscheinbare, unbeschriftete Brief. Kaya öffnete ihn und begann zu lesen. Voll mühsam. Sie nahm ihr iPhone, fand die App, die Schreibschrift in ein pdf umwandelte. Nun ging es einfacher. Nach ein paar Sätzen stand sie auf. „Mama?“
„Im Wohnzimmer.“
Kaya hielt den Brief in der einen, das iPhone in der anderen Hand. „Das musst du dir anhören. Echt krass.“
„Sei mir nicht böse, aber das Verhältnis war nie gut. Meine Mutter war keine herzliche Frau.“
„Weiß ich. Trotzdem.“ Kaya setzte sich im Schneidersitz aufs Sofa und begann zu lesen: „Da ich keine Ahnung habe, wer diesen Brief lesen wird, lasse ich die Anrede weg.“
„Steht ein Datum drauf?“
Kaya nickte und zeigte ihr das Papier.
„Ein Tag nachdem unser Vater gestorben war“, flüsterte Mama. „Das ist 25 Jahre her. Lies weiter, bitte.“
„Mein Gewissen wird mich eines Tages umbringen. Nicht einmal beichten durfte ich es. Obwohl ich ohnehin nicht mehr an Gott glaube. Religion ist, wie Politik, nur ein Mittel, um die Menschen gefügig zu machen und klein zu halten. Druck ausüben konnte Bernhard gut. Kam er mit Argumenten nicht weiter, wurde er handgreiflich. Er wollte eine Familie, denn ein guter Christ hatte Frau und Kinder, ging sonntags in die Kirche. Wie verlogen war das. Als Bergmann verdiente er recht gut und als ich mit dem zweiten Kind schwanger war, bekamen wir das Haus zugewiesen. Ein großes Haus mit fünf Schlafzimmern. Bernhard war zufrieden, vor allem, als ich drei Knaben zur Welt brachte. Er hatte alles geplant. Der älteste sollte Bergmann werden wie er, der zweite in die Politik gehen, um zu verhindern, dass die Zechen geschlossen werden. Der dritte sollte Medizin studieren und der vierte Pastor werden.“
Kaya runzelte die Stirn. „Hat wohl nicht geklappt, oder?“
„Nein, mein ältester Bruder wurde Schreiner, der zweite Lehrer, der dritte Gärtner und ich, das weißt du ja.“
„Du hast Medizin studiert und bist eine tolle Ärztin geworden.“
Mama lächelte. „Schon als kleines Mädchen wollte ich Ärztin werden, weil ich dachte, so könnte ich alle Wunden heilen. Leider nur ein Kindheitstraum.“
„War der Opa stolz auf dich?“
„O nein. Erstens wollte er kein Mädchen und wenn, dann blieben die daheim, um die Eltern im Alter zu pflegen.“
„Boah, in welchem Jahrhundert leben wir denn?“ Eine rhetorische Frage, darum wandte sie sich wieder dem iPhone zu: „Aber erstens kommt es anders, zweitens, als man denkt. So heißt es doch. Hätte ich gewusst, was mir blüht, hätte ich versucht, die Schwangerschaft abzubrechen.“
„Gut“, sagte Kaya, „dass sie das nicht gemacht hat. Sonst gäbe es uns gar nicht.“
„Die Schwangerschaft war anstrengender als die anderen. Aber ich hatte bereits drei kleine und vor allem anstrengende Jungs. Bernhard meckerte, wenn ich mich abends hinlegen, und er sich das Abendessen selbst warm machen musste. ‚Wenn es ein Mädchen wird, kannst es gleich ersäufen‘. Das war sein Standardspruch. Nur zuhause selbstverständlich. Mädchen und Frauen waren für ihn Menschen zweiter Klasse. Jeden Tag habe ich gebetet, dass Gott etwas unternimmt und mich von diesem Mann befreit. Aber er blieb stumm. Wie immer, wenn Menschen Hilfe brauchen.
Dann kam der Tag und ich gebar zwei Mädchen. Eine Hausgeburt, wie die anderen auch. Das war damals üblich.“
Ruckartig hob Mama den Kopf, riss Kaya den Brief aus der Hand und las die entsprechende Stelle erneut. „Ich hab eine Zwillingsschwester“, stammelte sie und auf ihren Wangen bildeten sich rote Punkte, als hätte sie irgendeine Kinderkrankheit.
Nun lasen sie beide weiter. Kaya vom iPhone, Mama vom Brief. „Die Hebamme war entsetzt, als Bernhard sie anschrie, sie solle die Bälger wegbringen. Als sie sich weigerte, hat er sie rausgeworfen, kam zu mir und zwang mich, mich für ein Kind zu entscheiden. Vier Kinder und keins mehr. Er könne kein weiteres Maul stopfen. Die Hebamme hat in ihrem Bericht später nur ein Mädchen erwähnt. Meine Maria.“
„Das warst du“, schluchzte Kaya und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Auch Mama liefen Tränen übers Gesicht, aber sie schien es nicht zu merken. Tonlos bewegten sich ihre Lippen, den Blick starr auf den Brief gerichtet.
„Ich weiß nicht einmal, was er mit dem toten Baby gemacht hat. Von da an hatte ich das Gefühl, innerlich leer zu sein. Meine Seele war mit dem Kind gestorben. Wenn es einen Himmel gibt, bleibt zu hoffen, dass ich dort meine Lisbeth wiedertreffe. Vergebung brauche ich nicht mehr, aber die Hoffnung, dass meine Kinder glückliche Menschen geworden sind.“
Kaya legte das iPhone neben sich. „Krass. Mein Opa ein Mörder.“
„Er war grausam, aber das …“
„Der kann froh sein, dass er schon tot ist.“ Kaya umarmte die Mutter. „Du bist die beste Mama, die ich mir wünschen könnte.“
„Danke.“ Ein winziges Lächeln erschien. „Beste Tochter der Welt.“
„Die eine Entscheidung getroffen hat.“ Kaya drückte das Kreuz durch. „Ich werde Theologie studieren.“
„Vielleicht solltest du dir doch noch Zeit lassen?“
„Nein. Ich werde Pfarrerin. Vielleicht kann ich dann Menschen wie der Oma helfen.“
„Oder Psychologie?“
Kaya lächelte. „Mag sein, dass da kein großer Unterschied ist, aber ich will allen helfen, nicht nur denen mit Rezept. Nein, meine Entscheidung steht.“
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)

RE: Brief - Die Entscheidung
in Archiv 09.06.2024 12:10von Bree • Federlibelle | 5.226 Beiträge | 22336 Punkte
Oh, wow, liebe @Doro
das ist ein ganz starker Text, mit toller Botschaft und düsterem Geheimnis. Was muss dieser Vater für ein Ungeheuer gewesen sein!
Die arme Frau ist in der falschen Zeit geboren worden. Im Hier und Heute hätte sie sich von diesem Monster trennen können. Doch damals ...
Atemlos und mit Beklemmung gelesen. Wirklich eine starke Story, mein Glückwunsch!
LG
Bree
Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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RE: Brief - Die Entscheidung
in Archiv 09.06.2024 15:42von Gini • Federlibelle | 1.992 Beiträge | 4277 Punkte
@Doro das muss schlimm gewesen sein damals. Da hatten Frauen noch nicht den Mut sich so einem Menschen gegenüber
zu wehren. Zum Glück ist das heute anders. Aber ist diesem Monster denn nicht irgendjemand auf die Schliche gekommen?
Zumindest die Hebamme hätte ihn doch anzeigen können. Sie hatte ja gesehen, dass die beiden Mädchen gelebt haben.
Warum die Oma dann so kaltherzig warn leuchtet mir nicht ein. Umso mehr hätte sie doch dann der Maria ihre Liebe zeigen müssen.
Ziemlich düsteres Geheimnis, was die Oma da mit ins Grab genommen hat.
Gedanken sind nicht stets parat, Man schreibt auch, wenn man keine hat.
Wilhelm Busch (1832-1908)

RE: Brief - Die Entscheidung
in Archiv 10.06.2024 09:59von Gini • Federlibelle | 1.992 Beiträge | 4277 Punkte
Kleiner Nachtrag liebe @Doro ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass zu der Zeit
jemand einen Mordbegehen konnte, was ja die Schwester von Kayas Mutter war, ohne dass
es geahndet wurde. So lange ist es dann ja noch nicht her gewesen, dass der Opa das Kind
beseitigt hat. Ich denke auch zu der Zeit wurden Mörder verhaftet.
Oder hab ich da etwas überlesen?
Gedanken sind nicht stets parat, Man schreibt auch, wenn man keine hat.
Wilhelm Busch (1832-1908)

RE: Brief - Die Entscheidung
in Archiv 10.06.2024 10:14von Doro • Federlibelle | 2.731 Beiträge | 10978 Punkte
Liebe @Gini ,
Zitat von Gini im Beitrag #3Es gibt Frauen, die durch die Ehe so ein Trauma erleben, dass sie nicht fähig sind, ihre Kinder zu lieben. (Ein Bekannter hat solch eine Mutter. Gewalttäiger Vater, der seine Aggressionen an Frau und Kindern ausgelassen hat.)
Warum die Oma dann so kaltherzig warn leuchtet mir nicht ein. Umso mehr hätte sie doch dann der Maria ihre Liebe zeigen müssen.
Emotionen sind nicht rational. Ich denke, dass diese Frau Maria ihre Liebe nicht zeigen konnte, weil sie sie jeden Tag daran erinnert hat, dass sie für den Tod des anderen Mädchens verantwortlich ist. Nicht wirklich, aber dadurch, dass sie sich für ein Kind entscheiden musste.
Zitat von Gini im Beitrag #4Wer will ihn anklagen? Es gibt - auch heute noch - Frauen, die in der Schwangerschaft kein einziges Mal bei einem Arzt waren. Somit wusste niemand von der Zwillingsgeburt. Die Hebamme hat die Geburt eines Kindes bescheinigt. Vielleicht hat der Mann sie bestochen oder ihr gedroht? Würde das rauskommen, verlöre sie eventuell ihre Zulassung.
Ich denke auch zu der Zeit wurden Mörder verhaftet.
Zitat von Gini im Beitrag #3Leider nicht immer. Unsere Jüngste hatte im Kindergarten eine Freundin, wo bekannt war, dass der Vater die Mutter schlug. Trotzdem ist sie bei ihm geblieben. Hat keiner verstanden. Sei war Arzthelferin, hatte zwei kleine Kinder, und hatte Angst, dass sie das nicht allein hinbekommt. Wir haben den Vater mal kennengelernt. Ein total netter, sympathischer Mann. Kaum zu glauben, dass er seine Frau geschlagen hat. Er hatte ein Lokal. Als ich erfahren habe, dass er sie schlägt, sind wir dort nicht mehr zum Essen hingegangen.
Zum Glück ist das heute anders.
LG
Doro
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)

RE: Brief - Die Entscheidung
in Archiv 10.06.2024 10:23von Doro • Federlibelle | 2.731 Beiträge | 10978 Punkte
Zitat von Bree im Beitrag #2
das ist ein ganz starker Text, mit toller Botschaft und düsterem Geheimnis.
Zitat von Bree im Beitrag #2Danke, liebe @Bree . Ursprünglich hatte ich einen anderen Text begonnen - ca ein Drittel war fertig - aber ihn nicht gespeichert. Eigentlich speichert Word alles trotzdem, aber in dem Fall nicht. Irgendwie hatte ich keine Lust denselben Text dann nochmal zu schreiben und beim Walken ist mir dann diese Geschichte eingefallen.
Wirklich eine starke Story, mein Glückwunsch!
Die drei Brüder und die Schwester, sowie den gewalttätigen Vater und die herzlose Mutter gibt es übrigens tatsächlich. Nicht in meiner Verwandtschaft, aber in der eines Bekannten. Der Mord an dem Zwilling ist erfunden. Auch die Namen. Wenn der Bekannte hin und wieder von den zerrüttetenden Familien-bzw. Verwandtschaftsverhältnissen erzählt hat, war ich immer sehr dankbar, dass wir eine (halbwegs) normale Familie sind.
LG
Doro
PS.: Frage: Heißt es "mein Glückwunsch" oder "meinen Glückwunsch"? Bin ich beim Lesen deiner Antwort drüber gestolpert.
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)

RE: Brief - Die Entscheidung
in Archiv 10.06.2024 16:18von Gini • Federlibelle | 1.992 Beiträge | 4277 Punkte
@Doro ich finde es heißt mein Glückwunsch. Meinen Glückwunsch klingt irgendwie merkwürdig.
Man kann auch einfach nur "Glückwunsch", ohne mein oder meinen sagen.
Jedenfalls hier im Norden.
Gedanken sind nicht stets parat, Man schreibt auch, wenn man keine hat.
Wilhelm Busch (1832-1908)

RE: Brief - Die Entscheidung
in Archiv 11.06.2024 12:47von Bree • Federlibelle | 5.226 Beiträge | 22336 Punkte
Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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RE: Brief - Die Entscheidung
in Archiv 01.07.2024 15:26von Perlfee • Federlibelle | 154 Beiträge | 588 Punkte
Hallo Doro
Uijuijui, was für eine Geschichte! Da muß man sich auch erstmal setzen ...
Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet, sehr gut gelungen. Häusliche Gewalt ist ein schwieriges Thema, das auch nie an Aktualität verlieren wird. Wer weiß, wie hoch da die Dunkelziffer ist.
Zitat von Gini im Beitrag #3Ja, das meinen wir aus unserer heutigen Sicht. Aber ich denke, die war auch unter Druck: hätte man ihr überhaupt geglaubt? Die Oma hätte ihr mit Sicherheit nicht beigestanden; Beweise für eine Zwillingsgeburt - evt auch nicht. Da hätte es eher geheißen, sie verleumde einen angesehenen Mann o.ä. Wahrscheinlich hätte sie ihre Stelle verloren, ihre Arbeitserlaubnis.
Zumindest die Hebamme hätte ihn doch anzeigen können. Sie hatte ja gesehen, dass die beiden Mädchen gelebt haben.
Zitat von Gini im Beitrag #3
Warum die Oma dann so kaltherzig warn leuchtet mir nicht ein. Umso mehr hätte sie doch dann der Maria ihre Liebe zeigen müssen.
Zitat von Doro im Beitrag #5Das denke ich auch. Der Mann hat sie zu dieser Entscheidung gezwungen - kann man sich überhaupt vorstellen, wie sowas ist, was das mit einem macht? Wie soll man sowas verarbeiten? Und Maria hat sie ständig daran erinnert. Ihr vielleicht auch unbewußt Schuldgefühle gemacht - so nach dem Motto "hätte ich mich doch gewehrt". Die Oma hatte ja auch vorher schon gebetet, daß es bloß kein Mädchen werden soll - da war mir eigentlich schon klar, daß sie ihre Tochter nicht wirklich lieben kann.
Ich denke, dass diese Frau Maria ihre Liebe nicht zeigen konnte, weil sie sie jeden Tag daran erinnert hat, dass sie für den Tod des anderen Mädchens verantwortlich ist. Nicht wirklich, aber dadurch, dass sie sich für ein Kind entscheiden musste.
Zitat von Doro im Beitrag #5Das ist ein Phänomen, daß sich logisch wahrscheinlich nicht erklären läßt. Oft sind solche Frauen quasi "vorgeprägt" durch Gewalt im Elternhaus; aber sicher auch nicht immer. Die eine Seite ist natürlich die Angst, wirtschaftlich nicht zurechtzukommen. Vielleicht ist eine Frau dann gezwungen, arbeiten zu gehen, hat Angst, Arbeit und Kinder nicht unter einen Hut zu bringen. Die zweite Seite ist, daß die Frau damit etwas Vertrautes verlassen würde, neu anfangen, vieles Unbekannte käme auf sie zu. Das ist für viele ein größerer Horror als die Schläge zuhause, da wissen sie, woran sie sind.
dass der Vater die Mutter schlug. Trotzdem ist sie bei ihm geblieben. Hat keiner verstanden.
Häusliche Gewalt ist eben auch etwas, das man nicht an der Zeit festmachen kann, in der man lebt ("Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter" usw) und auch nicht an gesellschaftlichen Schichten. Sie verändert sich evt in ihrem Aussehen, bekommt andere "Qualitäten". Auch Corona hat ja gezeigt, wie viele Familien kaputt sind, an Feiertagen sieht man das auch immer wieder. Es ist auch sicher sehr schwer, zu helfen: wenn die Frau keine Anzeige erstattet, was soll man da machen? Sieht man, Kinder werden mißhandelt, kann man das Jugendamt einschalten.
Eine sehr starke Geschichte, vielen Dank dafür

Liebe Grüße
Sylvia, Brownie, Pearly und Gimli
Behind every beautiful thing there′s been some kind of pain
(Bob Dylan, Not dark yet)

RE: Brief - Die Entscheidung
in Archiv 01.07.2024 17:24von Sturmruhe • Federlibelle | 1.982 Beiträge | 9711 Punkte
Liebe @Doro ,
deine Geschichte zeigt auf beklemmende Weise, wie ein einzelner Mensch eine ganze Familie generationenübergreifend emotional kaputtmachen kann. Seine Lieblosigkeit und dann auch noch ein Mord am eigenen Kind haben dazu geführt, dass seine Frau ihre Tochter nicht lieben konnte, die Tochter ihre Mutter andersherum ebenfalls nicht, und bestimmt war das für beide eine Tortur. Vor allem für die Tochter, die ja nicht wusste, was hinter der Kälte der Mutter steckte. Sie musste deren Verhalten persönlich nehmen, und wenn du von klein auf spürst, dass du von der Person, die dir am nächsten ist, nicht angenommen wirst, fehlen Halt und Sicherheit. Der Vater hat sie vermutlich und mit Glück "nur" ignoriert, von ihm kam sicherlich auch keine Anerkennung. Bestimmt hatte sie ihr Leben lang Minderwertigkeitskomplexe, während ihre Mutter es sich ganz bestimmt niemals verziehen hat, dass sie diesen Mann hat gewähren lassen (müssen). Eine fürchterliche Verstrickung. Erstaunlich, dass diese Frau nach den Erfahrungen mit der eigenen Mutter in der Lage ist, ihrer Tochter gegenüber liebevoll zu sein. Leider ist deine Geschichte nicht so sehr an den Haaren herbeigezogen, wie man es hoffen würde. Es gibt viele Familien mit solch dunklen Geheimnisse, und die Dunkelziffer ist noch viel höher, als man vermuten würde.
Eine starke Geschichte, bekemmend zu lesen, aber gut geschrieben.
LG Marion
„Wir sind das, was wir wiederholt tun. Vorzüglichkeit ist daher keine Handlung, sondern eine Gewohnheit.“ [Biene]
Aristoteles

RE: Brief - Die Entscheidung
in Archiv 04.07.2024 18:31von Doro • Federlibelle | 2.731 Beiträge | 10978 Punkte
Hallo @Perlfee ,
Zitat von Perlfee im Beitrag #10Da ist die Zahl von häuslicher Gewalt in die Höhe geschnellt. Wir haben zum Glück ein Reihenhaus mit Garten. Ist zwar ein kleiner Garten, aber immerhin eine Ausweichmöglichkeit. Viele haben noch nicht einmal einen Balkon und dann mit Kindern ... Räumliche Enge ist belastend.
Auch Corona hat ja gezeigt, wie viele Familien kaputt sind,
Zitat von Perlfee im Beitrag #10Das ist auch nicht so einfach. In der Klasse (3./4.) eines unserer Kinder war ein Junge, dessen Eltern Vollzeit gearbeitet haben. Die Brüder waren volljährig und polizeibekannt, wegen Drogendelikten. Der Junge hat die Schule geschwänzt, keine Hausaufgaben gemacht, sich nachts rumgetrieben, wollte sich die Freundschaft zu seinen Klassenkameraden mit Drohungen "erkaufen" (er hat die anderen mit einem Messer bedroht). Damals habe ich beim Familienzentrum gearbeitet und habe nachgefragt, ob bzw was man da machen kann. "Gar nicht", war die lapidare Antwort. Die Familie sei dem Jugendamt bekannt, aber da die Eltern ihre Kinder lieben sei es für den Jungen besser dort zu bleiben, als in ein Heim zu kommen.
Sieht man, Kinder werden mißhandelt, kann man das Jugendamt einschalten.
Ja, er wurde nicht körperlich mitsshandelt, aber total vernachlässigt. Die Klassenlehrerin wollte ihn in der Ganztagesklasse unterbringen, aber die Eltern haben nicht mitgezogen. Ich habe die Mutter mal kennengelernt und denke, sie war total überfordert, noch dazu war sie nicht sonderlich intelligent (vorsichtig ausgedrückt, auch wenn das überheblich klingen mag, aber es ist eine Tatsache). Sie konnte ihrem Sohn - was die Schule betrifft - nicht helfen. Grundschule wohlgemerkt.
Ich bin sehr dankbar, dass ich solche Dinge nie selbst erfahren musste.
LG
Doro
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)

RE: Brief - Die Entscheidung
in Archiv 04.07.2024 18:33von Doro • Federlibelle | 2.731 Beiträge | 10978 Punkte
Liebe @Sturmruhe ,
Zitat von Sturmruhe im Beitrag #11Glück für uns Autoren.
Es gibt viele Familien mit solch dunklen Geheimnisse, und die Dunkelziffer ist noch viel höher, als man vermuten würde.
Zitat von Sturmruhe im Beitrag #11Danke.
Eine starke Geschichte, bekemmend zu lesen, aber gut geschrieben.
LG
Doro
Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden. (Mark Twain)

RE: Brief - Die Entscheidung
in Archiv 04.07.2024 20:28von Perlfee • Federlibelle | 154 Beiträge | 588 Punkte
Hallo Doro
Das macht einen ganz sprachlos, oder? Ich bin vor einiger Zeit durch Zufall auf eine Gedenkseite gestoßen für Kinder, fast nur Babies und Kleinkinder, die von ihren Eltern mißhandelt und ermordet wurden. Es ist kaum zu glauben, wie oft in den Berichten stand "Familie war dem Jugendamt bekannt" oder "es gab eine Familienhelferin" u.ä. Da verliert man wirklich den Glauben an die Kompetenz solcher Stellen und deren Angestellter.
Zitat von Doro im Beitrag #12Da würde mich interessieren, was der Junge mal dazu sagt, wenn er älter ist. Vielleicht wäre er froh gewesen, im Heim oder einer liebevollen Pflegefamilie (sind leider auch nicht alle) aufzuwachsen, besser Förderung und verbesserte schulische Möglichkeiten gehabt zu haben.
Die Familie sei dem Jugendamt bekannt, aber da die Eltern ihre Kinder lieben sei es für den Jungen besser dort zu bleiben, als in ein Heim zu kommen.
Zitat von Doro im Beitrag #12Und das in der Grundschule! Also wenn das nicht mal ein Alarmsignal ist; aber leider wird auch da viel zu wenig interveniert.
wollte sich die Freundschaft zu seinen Klassenkameraden mit Drohungen "erkaufen" (er hat die anderen mit einem Messer bedroht).
Viele Grüße
Sylvia, Brownie, Pearly und Gimli
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RE: Brief - Die Entscheidung
in Archiv 11.07.2024 10:29von Carlotta Lila • Federlibelle | 2.335 Beiträge | 10531 Punkte
Liebe @Doro,
endlich habe ich Zeit auf deine Geschichte zu antworten. Meine erste Frage wäre auch gewesen, warum die Oma dann so kaltherzig ist, auf den ersten Blick hätte ich es mir nicht vorstellen können. Aber inzwischen habe ich auch schon viel erlebt, was mir nicht logisch erschien - in der Arbeit mit jungen Kriegsflüchtlinge vor allem.
Deine geschichte ist äusserst beklemmend, sie spricht auch von Familiengeheimnissen, die über Generationen ungelöst weiter getragen werden können. In deinem Fall hat es sich für die Mutter, die schon eine Tochter hat, aufgelöst - was sicherlich positiv auf das ganze Familiensystem wirken wird.
der Großvater und das patriachalische System kommen nicht gut weg - Allmachtsstellung der Männer - keine gute Sache. Auch sie waren überfordert, von Dingen wie Arbeitslosigkeit, Stellung in der Gesellschaft, etc. und gaben dann ihren Frust weiter.
Sehr gerne gelesen!
Liebe Grüße
Carlotta Lila
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Thomas Alva Edison
