#1

SGZ 49: Man kann nicht alles haben

in Die Geschichten der Woche 06.12.2022 20:13
von Doro • Federlibelle | 2.515 Beiträge | 9878 Punkte

Man kann nicht alles haben


Günther spannte die Rentiere aus. Einige Wichtel halfen ihm, die Tiere mit Wasser und einer Extraportion Futter zu versorgen. Weil heute Weihnachten war und sie ihre Aufgabe wie immer mit Bravour gemeistert hatten.
Beim Gedanken an Essen und Trinken knurrte sein Magen. Kein Wunder. Schließlich lag seine letzte Mahlzeit etliche Stunden zurück.
Was wohl seine Else Schönes für ihn gekocht haben würde? Weihnachten gab es entweder Gulasch mit Klößen und Blaukraut oder Wildschweinragout in Rotweinsosse mit Spätzle. Und zum Nachtisch ein Stück von Elses wunderbarem Stollen oder Mousse au Chocolat.
Am liebsten alles auf einmal. Aber alles konnte man nicht haben.
Das Glucksen seines Magens wurde zu einem Dauergrollen.
Zuallererst würde er es sich auf dem Sofa gemütlich machen, die Beine hochlegen und etwas vom Weihnachtspunsch trinken. Nach Rezept seines Großvaters mit Rotwein und Rum. Lächelnd verschloss er die Stalltür und schlurfte zum Haus. Endlich Ruhe. Darauf freute er sich am meisten. Selbst die Schlittenglöckchen nervten ihn, wenn er sie stundenlang hören musste.
Darum liebte er diesen Ort so. Zumindest nachts hörte man hier nichts. Er hob das Kinn, schloss kurz die Augen. Sogar der Schnee fiel geräuschlos zu Boden, als wüssten die Flocken, dass er die Stille genoss.
Was war das? Von irgendwo her hörte er etwas. Keine Musik, keine Werkstattgeräusche, keine Tierlaute – einfach nur Krach. Er lauschte, runzelte die Stirn und zupfte an seinem Bart.
Das kam vom Haus. Eindeutig. Er ging etwas schneller und riss die Tür auf.
„Ho, ho, ho!“, rief er. „Else, ich bin wieder daheim und habe einen Bärenhunger.“
Niemand antwortete, stattdessen wurde der Lärm immer lauter. Mit böser Vorahnung folgte er ihm. Tatsächlich – das kam aus dem Wohnzimmer. Zögernd legte er die Hand auf die Klinke.
Eigentlich war es im Stall relativ ruhig gewesen. Möglicherweise wäre das eine Alternative. Strohballen waren nicht so gemütlich wie sein Sofa, aber …

Die Klinke wurde ihm aus der Hand gerissen. Vor ihm stand Else. „Da bist du ja endlich“, begrüßte sie ihn mit geröteten Wangen. „Hab schon gehört, dass du fast erwischt worden wärst, weil du im Kamin stecken geblieben bist.“ Sie tätschelte seinen Bauch. „Glühwein und Plätzchen setzen im Alter halt besonders leicht an.“
Er atmete tief ein, dabei wurde der Bauch etwas flacher. Aber Luft anhalten war auf Dauer anstrengend, darum stieß er sie schnaubend aus. „Was ist das für ein Krach?“
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist Musik.“
„A-ha.“ Mehr fiel ihm dazu im Augenblick nicht ein.
Sie packte seinen Ärmel und zog ihn ins Wohnzimmer. Es war saukalt, denn die Terrassentür stand offen.
„Was wollen die alle hier?“, fragte er und musterte die Wichtel und Elfen, die die Terrasse bevölkerten. Es gab kein freies Plätzchen mehr.
„Das ist unser Weihnachtschor“, sagte Else und Stolz schwang in ihrer Stimme.
„Weihnachtschor“, wiederholte Günther. „Warum ausgerechnet hier?“
„Das hat sich so ergeben“, erklärte sie. „Anfangs waren wir nur zu dritt und haben über die geeignete Liedwahl diskutiert.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Dann wurden es immer mehr und alle wollten mitentscheiden und vor allem …“ Sie senkte die Stimme. „… mitsingen.“ Sie wandte den Kopf und betrachtete die plappernde Gruppe vor der Tür. „Es ist Weihnachten und ich habe es nicht übers Herz gebracht, jemanden wegzuschicken. Ich dachte, bei so vielen, fällt es vielleicht nicht auf, wenn jemand falsch singt. Wir haben mit Stille Nacht begonnen, dann Jingle Bells, Ihr Kinderlein kommet und Leise rieselt der Schnee.“ Sie seufzte. „Ich dachte, das kennt jeder. Aber es hapert schon beim Text. Drum hab ich ein paar Kopien gemacht.“
„Mit unsrem Drucker?“
„Wo sonst?“
Er zuckte die Achseln. Wo war ihm egal, Hauptsache nicht hier.
„Dann gab es ein bisschen Ärger“, gestand Else. „Wir konnten uns nicht über einheitliche Kleidung einigen.“
„Ist das nicht egal?“ Günther wurde es langsam zu bunt. Er wollte seine Ruhe. „Die singen dann auch nicht besser. Außerdem kommt es drauf an, dass man Spaß hat. Die Freude am Tun überwiegt. Äußerlichkeiten, wie Kleidung, sind dabei unwichtig.“
Else sah ihn erstaunt an. „Das war ja richtig philosophisch.“
Zwei Elfen schwebten herein und kuschelten sich aufs Sofa. „Draußen ist es zu kalt“, sagten sie unisono. Ein Wichtel gesellte sich zu ihnen. „Da hilft auch der Punsch nix mehr. Vielleicht könnte mal jemand die Tür zumachen? Ist Energierverschwendung.“
Die drei saßen auf seinem Sofa und futterten Nüsse und klein geschnippeltes Obst, das auf einer Glasplatte angerichtet war. Auf der Platte, auf der normalerweise der Stollen lag. Nicht nur lag, sondern lagerte.
„Wo ist mein Stollen?“, raunte er Else zu.
Sie klopfte abermals auf seinen Bauch. „Weißt du, wie viel Kalorien ein einziges Stück Stollen hat?“
„Will ich gar nicht wissen“, brummte er.
Else wirkte ein bisschen kleinlaut. „Irgendwas musste ich unseren Gästen ja anbieten.“
„Meinen Stollen?“, fragte er empört. Er musste sich zusammenreißen, um nicht laut zu werden.
„Da ich ihn jedes Jahr backe“, wies sie ihn zurecht, „ist es genau genommen meiner.“
Ihm fiel etwas anderes ein. „Es gibt doch den Engelschor. Warum singen die nicht?“
„Alle krank“, ertönte es vom Sofa.
„Irgendwann trifft’s jeden“, sagte Günther wissend und dachte kurz an seine Zeit in Quarantäne.
„Saublöd wenn’s grad an Weihnachten ist“, bemerkte einer der Wichtel, Günther konnte sich die Namen nicht merken, sahen auch alle irgendwie gleich aus.
„Für die einen ja, für die anderen nein“, orakelte Günther und schielte zu dem freien Sessel, in dem sonst Else saß. Notfalls könnte er mit dem vorlieb nehmen.
Else stemmte die Hände in die Hüfte. „Gefällt dir der Engelschor nicht, oder was soll das heißen? Oder unser Chor? Obwohl du den noch gar nicht gehört hast.“
Er kratzte sich unterm Bart. „Mei, in der Weihnachtszeit werden überall Weihnachtslieder gespielt. Da ist es doch verständlich, wenn ich froh bin, keine mehr hören zu müssen.“ Er holte tief Luft. „Und jetzt würde ich mich gerne ausruhen. Schließlich hab ich einen anstrengenden Job hinter mir. Ein bisschen Rücksichtnahme wäre schön.“
„Aber erst üben wir noch einmal.“ Seinen Einwand ignorierend drückte sie ihm ein Blatt in die Hand. „Du singst Bass. Wir haben uns bereit erklärt, für die Engel einzuspringen, also ziehen wir das durch. Silentio bitte!“ Sie hob die Hand, in der sie plötzlich ein Stöckchen hielt. Günther kniff die Augen etwas zusammen. Sah fast aus, wie ein Kochlöffel. „Wir singen die Lieder durch. Konzentriert euch, dann sind wir schneller fertig.“
Ein Wichtel sauste zwischen den Sängern herum. Günther konnte es nicht glauben. „Ist das ein Tablet?“, wollte er von Else wissen.

Hier war die Stunde um.

„Klar“, sie nickte, „wie sonst würde man es überall hören?“
„Versteh ich nicht.“
„Den Gesang der Engel“, erklärte sie in jenem Tonfall, den sie für besonders begriffsstutzige Menschen reserviert hatte, „kann man weltweit vernehmen. Jedenfalls, wenn man möchte. Da uns die himmlische Macht nicht zur Verfügung steht, müssen wir uns mit irdischer Technik behelfen.“
„Aber ich hab’s im Griff“, sagte der Wichtel und hob den Daumen.
„Yepp!“, krähte ein anderer, der vor einem Keyboard in Kindergröße saß. „Let’s go!“
Günther wunderte nichts mehr.
Else gab ein Zeichen und alle schmetterten ‚Stie-hie-le Naacht, heilige Naacht …‘
Günther fügte sich in sein Schicksal. Je schneller sie fertig wurden, desto eher kehrte Ruhe ein. Seine laute Bassstimme übertönte die Wichtel und Elfen. Es war ihm egal. Auch, dass er viel schneller sang, als Else dirigierte und sie ihm ständig böse Blicke zuwarf. Bei ihm kamen die Kinderlein schneller, und die Glöckchen in Jingle Bells läuteten mit den rieselnden Schneeflocken um die Wette.
Der Keyboard-Wichtel hatte Mühe hinterherzukommen. Unter seiner Mütze quollen Schweißperlen hervor.
Als der letzte Ton verklungen war, die Wichtel und Elfen verschwunden waren, ließ sich Günther aufs Sofa fallen, streifte die Stiefel von den Füßen und legte mit einem Seufzen die Beine hoch.
„Das hast du absichtlich gemacht.“ Else stand vor ihm, den Kochlöffel immer noch in der Hand, der gefährlich nahe über seinem Kopf schwebte.
„Hat Spaß gemacht“, sagte Günther und steckte sich einen Apfelschnitz in den Mund. „Das machen wir nächstes Jahr wieder. Und jetzt hab ich Kohldampf.“
Sie nahm den Löffel herunter und lächelte. „Dieses Jahr hab ich mir was Besondres ausgedacht.“
Ihm schwante Böses und sofort wurde seine Ahnung real.
„Zu viel Fleisch ist ungesund. Mal davon abgesehen, dass mir die Tiere leidtun. Deshalb gibt es Kürbisrisotto mit Kichererbsenbällchen. Ist schon fertig, muss ich nur warmmachen. Dazu einen Rohkostsalat. Ist megagesund.“ Sie strahlte ihn an.
Er suchte ihn ihrem Gesicht nach einem Zucken, hoffte, sie würde in Gelächter ausbrechen. Aber nichts geschah.
„Möchtest du ein Glas Punsch bis das Essen fertig ist?“
Seine Miene hellte sich auf. „Nach dem Rezept von meinem Großvater?“ Wenigstens eine Tradition war geblieben.
Sie nickte, dann prustete sie los. „Sorry“, keuchte sie, als sie sich wieder beruhigt hatte. „Scherz. Natürlich die alkoholfreie Variante.“
„Witzig“, knurrte er.
Sie kicherte. „Find ich auch. Dass du deinen Humor behältst, das liebe ich an dir.“
Im Rausgehen drückte sie auf den CD-Player. „Fröhliche Weihnacht überall“, plärrte es ihm entgegen. Else sang in der Küche mit.
„Von wegen fröhliche Weihnachten“, knurrte er, verschränkte die Arme vor der Brust und tat sich furchtbar leid. Nächstes Jahr würde er nach getaner Arbeit einen Abstecher zum Osterhasen machen. Da gabs wenigstens einen Selbstgebrannten. Zum Essen allerdings auch nur Grünfutter. Dafür gab es keinen Chor.
Er seufzte.
Man konnte nicht alles haben.


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#2

RE: SGZ 49: Man kann nicht alles haben

in Die Geschichten der Woche 06.12.2022 22:53
von Rita (gelöscht)
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@Doro, was für eine herrliche Geschichte. Das ist wie im richtigen Leben - Man freut sich auf einen ruhigen Feierabend und etwas Leckeres zu Essen und dann kommt alles anders als gewünscht. Den Ärmsten hat es aber auch auf ganzer Linie getroffen. Aber eine sehr schöne Weihnachtsgeschichte. Wenn ich Enkelkinder hätte, hätte ich diese ganz sicher vorgelesen. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.


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#3

RE: SGZ 49: Man kann nicht alles haben

in Die Geschichten der Woche 07.12.2022 07:55
von Doro • Federlibelle | 2.515 Beiträge | 9878 Punkte

Zitat von Rita im Beitrag #2
was für eine herrliche Geschichte.
Danke, @Rita . Freut mich, dass dir die Geschichte gefällt.

Zitat von Rita im Beitrag #2
Das ist wie im richtigen Leben
Ganz genau. Gerade Kinder bringen oft alles durcheinander oder unangekündigter Besuch. Alles selbstverständlich wichtiger als Hausarbeit. Oder, wenn jemand anruft, weil er Corona hat und einen bittet, einkaufen zu gehen oder eine Krankmeldung vom Arzt abzuholen. Macht man im Prinzip alles gern, aber trotzdem bringt es den geplanten Tagesablauf durcheinander. Bei mir leidet darunter vor allem das Schreiben.


LG
Doro


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#4

RE: SGZ 49: Man kann nicht alles haben

in Die Geschichten der Woche 11.12.2022 14:46
von Gini • Federlibelle | 1.838 Beiträge | 3794 Punkte

@Doro herrlich deine Geschichte. Besonders amüsant ist der Name Günther für einen Weihnachtsmann.
Das gefällt mir. Du hast alles Aktuelle mit reingebracht. Dicke Männer müssen Diät halten, oder auch die Energieverschwendung und Quarantäne. Hätte man doch nie gedacht, dass man aus Corona, oder der Energiekrise Geschichten zaubern kann.


Gedanken sind nicht stets parat,/ Man schreibt auch, wenn man keine hat.

Wilhelm Busch (1832-1908)
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#5

RE: SGZ 49: Man kann nicht alles haben

in Die Geschichten der Woche 13.12.2022 12:40
von Bree • Federlibelle | 4.649 Beiträge | 19121 Punkte

Liebe @Doro

ELSE heißt sie also! Wie schön, jetzt hat Günthers Frau einen Namen. Und eine Autorität, der der arme Günther nicht viel entgegenzusetzen hat. Herrlich!
Aber ich habe auch Mitleid mit ihm. Da freut man sich auf einen ruhigen Weihnachtsabend mit köstlichem Essen - und dann das!
Aber - wie der Titel schon sagt - man kann nicht alles haben.

Ich hoffe, das Kürbiszeug schmeckt ihm auch. Auf jeden Fall macht es bestimmt satt.

LG
Bree


Der Kriminalschriftsteller ist eine Spinne, die die Fliege bereits hat, bevor sie das Netz um sie herum webt.
(Sir Arthur Conan Doyle)

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#6

RE: SGZ 49: Man kann nicht alles haben

in Die Geschichten der Woche 13.12.2022 20:59
von Doro • Federlibelle | 2.515 Beiträge | 9878 Punkte

Zitat von Bree im Beitrag #5
Ich hoffe, das Kürbiszeug schmeckt ihm auch.
Hatte ich neulich beim Italiener. War sehr lecker. Allerdings mit Lachs und nicht mit Kichererbsenbällchen.


Zitat von Bree im Beitrag #5
Wie schön, jetzt hat Günthers Frau einen Namen.
Ja, nachdem du gefragt hattest, habe ich mir einen überlegt, der zu Günther passt. Und Else fand ich gut.


LG
Doro


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